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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 4, 99

Mehr als Statistik

Eine soziale Bilanz öffentlicher Bibliotheksarbeit

Robert C. Usherwood *)

Einführung

Vor mehr als zwei Jahren richteten wir an der Universität von Sheffield das Zentrum "Öffentliche Bibliothek in der Informationsgesellschaft" (CEPLIS) ein. Dies ist eine Forschungs- und Beratungseinrichtung mit einem besonderen Schwerpunkt auf öffentlicher Bibliotheksarbeit. Das Hauptinteresse dieser Institution gilt der Auswirkung öffentlicher Bibliotheksdienstleistungen auf Einzelpersonen und Gruppen in der Gemeinde. Hier sollen einige Ergebnisse unserer Forschungsarbeit vorgestellt werden, die - wie wir meinen - unser Verständnis von der Rolle und dem Wert der örtlichen Bibliothek verfeinern. Dies bezieht sich vor allem auf folgende Gebiete:

Dabei werden wir in erster Linie über unser soziales Projekt sprechen, aber gelegentlich werden wir uns auch auf andere Arbeiten des Zentrums beziehen, die für dieses Gebiet wichtig sind. Ich benutze dabei immer die Form "wir", um die Mitarbeit von Rebecca Linley und meiner anderen Kollegen in Sheffield deutlich zu machen.

Schon seit Jahren wollten wir die Techniken der sozialen Untersuchung (social audit) zur Evaluierung der Bibliotheksarbeit einsetzen. Wir haben diese Ideen mit mehreren Praktikern diskutiert, und dank der Unterstützung der British Library konnten wir eine solche Untersuchung in Somerset, einem ländlichen Kreis (county) im Süden, und in Newcastle, einer großen Stadt im Norden Englands, durchführen. Dabei war unser Ziel festzustellen, wieweit sich die Ideen über Bibliotheken in der Praxis wiederfinden und bis zu welchem Grad soziale Vorhaben wirklich umgesetzt wurden. Dementsprechend sollte ein Gerüst geschaffen werden, das es der Fachwelt und den Politikern ermöglicht, sich ein sachliches Urteil über den Wert und den Einfluß des öffentlichen Bibliothekswesens zu bilden.

Dabei wurden drei Hauptziele verfolgt:

  1. Die Entwicklung eines Maßstabes zur Bewertung des sozialen Einflusses der Bibliotheksaktivitäten im Verhältnis zu den Zielen
  2. Die Untersuchung der sozialen und wirtschaftlichen Rolle der öffentlichen Bibliotheken
  3. Die Untersuchung, wieweit die Aktivitäten der Bibliothek in der Praxis dazu beitragen, ihre sozialen Ziele zu erreichen.
So stand es in unserem ersten Projektantrag an die British Library, aber nachträglich würde ich dem Wort "Maßstab" den Begriff "Evaluierung" vorziehen.

Der "Anfang jeder sozialen Untersuchung ist die Definition der Werteskala, auf deren Grundlage die Aktivitäten dieser Unternehmung oder einer anderen Organisation beurteilt werden sollen" (Zadek und Evans, l993). Das Projekt begann mit der Feststellung der sozialen Ziele der beiden lokalen Behörden. Zunächst prüften wir grundsätzlich die Ansichten und Konzepte ausgewählter Partner, um zu sehen, wie weit diese Zeile erreicht worden waren; dies waren in erster Linie:

Heute wagen wir den Schritt, einige unserer recht neuen Ideen vorzustellen. Es ist ein Ziel von CEPLIS, die Barrieren zwischen Forschung und Praxis zu überwinden. Wie andere Bereiche des öffentlichen Dienstes kann das Bibliothekswesen von praxisorientierten Ergebnissen nur profitieren. In dem Projekt haben wir zahlreiche Belege über die Rolle der Öffentlichen Bibliothek und ihren Einfluß auf die Kommune gesammelt; davon können wir hier nur einen kleinen Teil vorstellen.

Die soziale Rolle der Bibliotheken

Die Aktivitäten der Öffentlichen Bibliotheken werden als potentielle, manchmal als tatsächliche Aufgabe beschrieben, die von "Informationsvermittlung bis zur Fürsorge reicht" (Landry l993). In Newcastle, wo die Bibliotheksarbeit darauf abzielt, "im Herzen der lokalen Kommune präsent" zu sein, wird klar erwartet, daß die Bibliothek eine soziale oder fürsorgliche Rolle spielt. In Somerset liegt zwar die Betonung mehr auf den traditionellen Aufgaben, der Auftrag der Bibliothek wird dennoch auch als "kommunale Ressource" bezeichnet (Somerset County Library Service, 1997) Die vage, aber wichtige Rolle der Bibliothek, zum sozialen Zusammenhalt der Gemeinde beizutragen, ist ein wiederkehrendes Thema in beiden Studien. Dies zeigte sich in den innerstädtischen Bezirken von Newcastle wie in den abgelegenen ländlichen Gemeinden in Somerset, die entweder von kleinen ortsgebundenen Bibliotheken oder von Bücherbussen versorgt werden. In beiden Fällen scheint es, daß die Bibliothek soziale Isolation und individuelle Einsamkeit lindern kann.

In Newcastle wurde der symbolische Wert der Bibliothek in allen besuchten Bezirken gesehen. Die Bereitstellung oder aber die Einschränkung von Bibliotheksdienstleistungen wird als Hinweis auf die Haltung der Verwaltung dazu aufgefaßt, was ein Teilnehmer als "Kommunen unter Stress" bezeichnete. Offensichtlich ist der Einfluß der Bibliotheken in den verschiedenen Gegenden unterschiedlich, was möglicherweise von Faktoren wie dem Grad des sozialen Niederganges und der Verfügbarkeit anderer Quellen abhängig ist. Es mag bezeichnend sein, daß in dem heruntergekommensten Bezirk die Bibliothek als "Herz der Kommune" angesehen wurde, zumindest von den Bibliotheksbenutzern.

Eigentum

Ganz offensichtlich stärkt diese soziale Dimension der Bibliotheksbenutzung auch das Empfinden dafür, daß die Bibliothek Eigentum der Kommune ist. Wir fanden dies sowohl in Newcastle als auch Somerset, wo die öffentliche Bibliothek als freundliche und einladende lokale Institution angesehen wurde. Ähnlich wurde dies vom Comedia-Forschungsteam in seiner Cleveland Studie erwähnt, wonach "die Mitarbeiter der Bibliothek ein warmes, fast häusliches Ambiente geschaffen hatten, ein 'home from home', und dies machte die Bibliothek anscheinend symbolisch zum Eigentum der Kommune, anders als andere Formen des Öffentlichen Dienstes wie Arbeitsämter, Jugendklubs und vergleichbare kommunale Zentren" (Comedia 1993).

Unsere Studie erwähnt, daß dies auch auf ländliche Gegenden zutrifft. In Somerset wurde dies durch die kleinen Gemeindebibliotheken in Dörfern wie Wiveliscombe und Bishop's Lydeard demonstriert, wo die Bibliothek als "kommunales Schwarzes Brett" gilt. Es gab auch ganz bestimmte Indizien für diese Einstellung in Newcastle. Ein gutes Beispiel dafür bot eine Bibliothek, die frei von Vandalismus war, obwohl die angrenzende Schule darunter sehr zu leiden hatte.

Die pädagogische Rolle der Bibliothek

Die Rolle der Stadtbibliothek für Bildung und Erziehung wird eindeutig hoch eingeschätzt. Neueste Forschungen, einschließlich der Comedia Study und des DHN Review (Regierungsuntersuchung), belegen, daß nicht nur gut ausgestattete Zentral- und Distriktbibliotheken eine wichtige pädagogische Aufgabe haben. Allerdings haben finanzielle Kürzungen in den letzten Jahren oft in Stadtteil- wie in Zentralbibliotheken eine Einschränkung bei der Versorgung mit "Bildungsmaterial" bewirkt. Das wurde auch in unserer Untersuchung in Newcastle deutlich, wo sowohl die Benutzer als auch die Politiker beklagten, daß in der Stadtbibliothek das Aus- und Fortbildungsmaterial und literarische Werke ersetzt wurden durch etwas, das ein Nutzer "Regale voller Schund" nannte.

Die neue Betonung der Bildungsaufgabe der Bibliothek vollzog sich im Zusammenhang mit dem Selbstlernen. Sie ist besonders auf den unabhängig Lernenden zugeschnitten, z. B. durch das von der Regierung geförderte "Open for Learning Scheme", sowie in der Fachdiskussion um die Unterbewertung der Bibliothek als Zentrum für die schulische Hausarbeit. Weniger beachtet wurde das Potential der Stadtbibliothek, aufgrund ihrer pädagogischen Funktion einen Beitrag zur Stadtentwicklung zu leisten. Unsere Untersuchung legt uns nahe, daß es eine unerforschte Beziehung zwischen der Rolle der Bibliothek als Katalysator der persönlichen Entwicklung und ihrer Rolle bei der Entwicklung der Kommune selber gibt. Wir möchten behaupten, daß die Verfügbarkeit lokaler Ressourcen für persönliche Entwicklung eine grundlegende Voraussetzung ist, um eine selbstbewußte Gemeinde zu schaffen - eine Gemeinde mit Fähigkeiten und Möglichkeiten, um das politische und ökonomische Umfeld zu beeinflussen. Beweise aus Newcastle, die diese Annahme stützen, sollen später angeführt werden.

Der wirtschaftliche Einfluß der Bibliothek

In der Somerset-Fallstudie schien die Bibliothek einen unmerklichen ökonomischen Einfluß bei der Unterstützung der örtlichen Einkaufszentren zu haben, die durch die Läden in der großen Stadt Taunton unter Druck gerieten. Dieses bestätigt auch die Beziehung von Besuchen örtlicher Läden und der Bibliothek, wie sich bei der Untersuchung des Streikes in Sheffield herausstellte (Proctor et al. 1996). Außerdem wird die Bibliothek als Unterstützung für die touristische Infrastruktur in einigen Orten von Somerset betrachtet.

In Newcastle konnte der wirtschaftliche Einfluß nicht so leicht ermittelt werden. Das lag hauptsächlich daran, daß in den Gegenden, die für unsere Untersuchung herangezogen wurden, die soziale und kommunale Rolle der Bibliothek stärker betont wurde. Kommunalvertreter und Bibliotheksmitarbeiter haben jedoch auf den Wert der "business information" hingewiesen.

Lesen und Medienkompetenz

Die Aufgabe der Bibliothek in der Leseförderung wurde besonders in New-

castle hervorgehoben, wo Kommunalvertreter über den niedrigen Grad der Lese- und Rechenfertigkeit in der Stadt besorgt waren. Aufgrund persönlicher Erfahrungen von Eltern und Betreuern von Gruppen wurde daher vorgeschlagen, daß die Bibliotheken helfen sollten, die Lesefertigkeit kleiner Kinder zu fördern, einschließlich der englischen Sprachkompetenz von Kindern, deren Eltern nicht Englisch als Muttersprache beherrschten. Die Auswertung von Einzel- und Gruppen-Interviews in Newcastle ließ die Bibliothek als einen geeigneten Ort dafür erscheinen, da sie eine nicht stigmatisierte Umgebung für besondere Initiativen zur Leseförderung biete, auch wenn die Bibliotheken dies nicht unbedingt schon erkannt haben.

Die Entwicklung von Vertrauen in die Kommune

Als wir die Daten zu analysieren begannen, wurde klar: Sobald sie bestimmte Dienstleistungen anboten, können Bibliotheken wesentlich dazu beitragen, Vertrauen in Einzelpersonen und Kommunen zu entwickeln. Dieses wurde durch einen Teilnehmer einer Gruppenbefragung bestätigt:

"Ich weiß, daß die Bibliothek mir viel geholfen hat, als ich in das College ging... Als Kind war ich nie zur Schule gegangen, aber 1980 besuchte ich das College und ich lernte unendlich viel durch die Bibliothek. Früher hätte ich zu Ihnen nicht darüber gesprochen, denn ich konnte es nicht, aber jetzt mit der häufigen Benutzung der Bibliothek,... es hat mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin, und das ist schon sehr gut."

Die Entwicklung individuellen Selbstbewußtseins kann zu größerem Vertrauen in die Kommune führen, und da gibt es natürlich Verbindungen zu den Punkten, die wir bei "Eigentum" schon berührt haben, sowie zur Wahrnehmung der Stadtbibliothek als eine positive, freundliche und einladende Institution und zu ihrem Beitrag zum sozialen Zusammenhalt.

Öffentliche Bibliotheken werden als kommunale Orientierungspunkte angesehen, die die kommunale Identität verstärken, dazu tragen besonders Angebote zur Heimatkunde bei, wie wir herausfanden. In Newcastle erlangte dies besondere Bedeutung angesichts des Niedergangs der Industrie, die traditionell die lokale bzw. regionale Identität formte. Für viele Leute sind die öffentlichen Bibliotheken das "Herz der Gemeinde". Unsere Interviewpartner einschließlich der Lokalpolitiker sahen in der Stadtbibliothek einen symbolischen Wert, und zwar gleichermaßen Benutzer wie Nichtbenutzer. Einer erzählte uns:

"Ich denke, die Leute sehen (die Bibliothek) als eine wirklich wichtige lokale Größe an, ob sie sie nun benutzen oder nicht, und wenn man sie schließen würde, hätte das auf die Moral der Leute eine schreckliche Wirkung. Die Bedeutung liegt darin, daß es das einzige ist, worauf die Leute zeigen können und sagen, das ...gehört der Gemeinde, ohne eine Schule zu sein... und in diesem Sinne glaube ich, erhöht sie auch das Ansehen der Kommune."

Wir wollen und können nicht die öffentliche Bibliothek selber für alle Lebensveränderungen verantwortlich machen, über die man uns berichtete. Daran sind natürlich auch viele andere Institutionen beteiligt, und in unserem Abschlußbericht unterschieden wir auch zwischen vorläufigen und endgültigen Rückschlüssen aus der Bibliotheksbenutzung.

Unparteilichkeit

Die meisten modernen Statements über den Bibliotheksauftrag sprechen der Öffentlichen Bibliothek die Rolle zu, gleichen Zugang zu der Fülle von Informationen, Ideen und Werken der Phantasie zu ermöglichen. Wir behaupten, daß eine öffentliche Dienstleistung den Grundsatz sozialer Unparteilichkeit beherzigen sollte. Unparteilichkeit sollte daher Bestandteil einer Prüfung bibliothekarischer Dienstleistungen sein. In ihrem jüngsten Bericht über Öffentliche Bibliotheken, genannt Due for Renewal, weigerte sich jedoch die Prüfungskommission 1997, "Unparteilichkeit" (Equity) zu den drei anderen E's hinzuzufügen (nämlich: Efficiency, Economy and Effectiveness = Leistungsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit). Die Kommission kümmert sich nur darum, was meßbar ist, und im Ergebnis wird viel Wichtiges ignoriert. Dieser Bericht schenkt z. B. dem Wert von Lesen, Medienkompetenz, Information und Wissen wenig Aufmerksamkeit. Daher spielte hier auch der Gedanke der Unparteilichkeit keine Rolle.

Sehr wohl aber für uns, und unsere Untersuchung ergab, daß die Bibliothek unparteilich Dienste bietet für ältere Leute, für Behinderte und für ethnische Minderheiten. Weit weniger stark wird diese Unparteilichkeit von Alleinerziehenden und jungen Arbeitslosen empfunden, zumal einige Gruppen, besonders Alleinerziehende nicht gerne als Zielgruppe wahrgenommen werden. Die jüngste Arbeit von Roach und Morrison (1998) zeichnet auch ein wenig positives Bild hinsichtlich Gemeinschaften ethnischer Minderheiten. Das bedeutet nicht, daß wir - oder sie - recht oder unrecht haben. Vielmehr möchte ich nur darauf hinweisen, daß es die Position der verschiedenen Kommunalverwaltungen und die verschiedenen Herangehensweisen reflektiert.

Management-Fragen

Unsere Daten legen nahe, daß der Umfang, in dem die Bibliothek ihre sozialen Ziele erfüllt, in gewissem Grade vom Management der Bibliothek und der lokalen Verwaltung abhängt, also von Faktoren, die sich der unmittelbaren Kontrolle durch die Bibliotheksmitarbeiter entziehen. Zu den Faktoren, die als hilfreich oder hinderlich für die sozialen Ziele eingestuft wurden, gehören die Ressourcen, das Marketing und der Bekannheitsgrad der Bibliothek, ihre Benutzungsordnung und Institutskultur, die Struktur und die Einstellung der Mitarbeiter. Faktoren, die weniger dem Einfluß der Mitarbeiter unterliegen, sind die Lage der Bibliothek und die Furcht vor Verbrechen in der Kommune.

Folgerungen aus der Untersuchung

Aufgrund der von uns ermittelten Daten kann die Bibliothek für sich in Anspruch nehmen, Individuen und Kommunen bei Aufbau und Weiterentwicklung zahlreicher Aktivitäten zu helfen. Darüber hinaus kann die Bibliothek, zuweilen unterstützt von anderen Institutionen, die Entwicklung Einzelner und der Kommune fördern. Kurz gesagt, die Bibliotheken bereichern das Leben vieler Leute. Die social audit-Technik macht diesen Bereicherungsprozeß deutlich.

In diesem Projekt wollten wir die Bibliotheken nach einer neuen Methode evaluieren. Wir glauben gezeigt zu haben, daß Qualitätsmerkmale, richtig zusammengestellt, aufschlußreich genug sind. Viele unserer Schlußfolgerungen basieren auf solchen Qualitätsmerkmalen, mögen sie auch anekdotenhaft klingen. Es sind Daten aus der realen Welt, die wir stringent ermittelt haben. Wir entschuldigen uns nicht für unser Konzept; wenn es eine Botschaft gibt, die wir unseren Lesern vermitteln wollen, ist es die: Qualitätsmerkmale, korrekt zusammengetragen, haben starke Beweiskraft und sollten als solche gleichermaßen von Politikern und Fachleuten berücksichtigt werden.

In unserem Abschlußbericht haben wir versucht, unsere Methode detailliert zu erklären, und wir würden uns über Kommentare freuen. Der Gebrauch von Berichten der Teilnehmer, um Gründe und Konsequenzen von Aktionen zu erklären, hat in den Sozialwissenschaften eine lange Tradition. Schon 1928 schrieb der Soziologe Thomas: "Wenn Menschen Situationen als real beschrieben, dann sind sie in ihren Konsequenzen real."

Indem wir die Art und Weise analysieren, wie "die Leute" Situationen definieren, können wir die Situationen besser verstehen. Wir glauben, daß diese Maxime auch auf Bibliothek und Information zutrifft.

Heute brauchen wir unbestritten anspruchsvollere Konzepte, um den Wert von Bibliotheksdiensten zu bemessen, als einfach die Buchausleihe zu zählen. Nach unserer Auffassung wird die social audit-Technik den persönlichen und gemeinschaftlichen Erfahrungen mit der Bibliothek besser gerecht. Solche Erfahrungen bringen das Fleisch auf die Knochen trockener Statistik. Sozialwissenschaftler heben gern hervor, wie wichtig es ist, die Daten zu betrachten und eine Geschichte zu erzählen. Unsere Partner in Newcastle und Somerset haben uns mit vielen Geschichten versorgt, und so manche davon finden sich wieder in unseren Abschlußbericht.

Die Umsetzung der Resultate

Wir glauben, daß unsere Ergebnisse stichhaltig sind und daß es möglich ist, sie "auf andere Situationen unter ähnlichen, wenn auch nicht identischen Bedingungen zu übertragen" (Patton 1987). Eine ähnliche Technik wurde von Firmen wie Bodyshop und Traidcraft und durch die Co-operative Bank angewandt. Im Sommer 1998 führte auch einer meiner Studenten eine ähnliche Untersuchung für das Citizen's Advice Bureaux durch, das sich in einem Krankenhaus für geistig Behinderte befindet. Wir hoffen, daß die hier angewandten Methoden von weiteren öffentlichen Bibliotheken, ja von anderen öffentlichen und gemeinnützigen Einrichtungen im Informationsbereich angewandt werden, um die Wirkung ihrer Dienstleistung zu ermitteln und die Gründe für Erfolg oder Mißerfolg zu festzustellen.

Wir erheben aber nicht den Anspruch, ein Modell für die Evaluierung der Öffentlichen Bibliotheken entwickelt zu haben, denn - wie Smith 1996 sagt:

"In der Praxis ist es fast immer unmöglich, alle wichtigen Variablen zu messen, und so muß man akzeptieren, daß die Analyse sowohl unvollständig als auch parteiisch ist, und zwar in dem Sinne, daß nur ein bestimmter Anteil unparteiischer Werte eingeflossen ist. Es ist wichtig, diese Begrenzungen eines solchen Meßsystems deutlich zu machen". (Smith l996)

Tatsächlich haben wir in unserem ersten Antrag gesagt, daß wir eine objektive Quantifizierung der sozialen Bedürfnisse nicht für möglich halten. Wir halten es jedoch für durchführbar, einen Rahmen für eine auf informativen Faktoren beruhende Beurteilung zu entwickeln. Der Erfolg oder Mißerfolg wird in der Praxis zu einem gewissen Grad durch die Forschungskultur und die zur Verfügung stehende Infrastruktur, z. B. die Bildung von Fokusgruppen, beeinflußt.

Dies zeigt, daß die Untersuchung von den sozialen Zielen der Organisation ausgehen muß, in unserem Falle der zwei Kommunalverwaltungen. Es gibt eine Wechselbeziehung zwischen den Zielen und den Bedürfnissen der Kommune. Das Angebot an Dienstleistungen, um diese Bedürfnisse zu befriedigen, muß im Zusammenhang gesehen werden. Dabei wird es von Faktoren wie Regierungspolitik, Wirtschaft und Umwelt beeinflußt. Bibliotheken haben traditionell Angebotsindikatoren gesammelt, wie Anzahl der Mitarbeiter oder Größe des Bestandes. Allerdings wird die Beziehung zwischen Angebot und Leistung wie auch die Art der Dienstleistung durch verschiedene Managementfragen beeinflußt. Sowohl die Angebots- als auch Leistungsindikatoren werden regelmäßig von den Bibliotheksverwaltungen angewandt. Sie sind nicht wertlos, aber die öffentliche Bibliothek spiegelt sich nur zum Teil darin wider.

Zwischen- und Endergebnisse der Bibliotheksbenutzung sind aus qualitativen Verfahren, wie oben beschrieben, zu gewinnen. Die Beziehung zwischen den beiden ist komplex und wir machen nicht geltend, daß der Fortschritt etwa eines Kindes, das liest und schließlich angestellt wird, und von Leuten, die sich treffen, und des sozialen Zusammenhalts alleine an der Bibliothek liegt. Dazu mögen letztendlich andere Variablen in der Kommune oder in der persönlichen Lebenserfahrung beitragen. Hingegen können wir belegen, daß die Bibliothek einen wichtigen Anteil hat. Durch Grabenkriege ist nichts zu gewinnen, besonders wenn sie zwischen verschiedenen Abteilungen der Kommunalverwaltung darüber ausgefochten werden, welche Abteilung was macht.

Dieser Rahmen ermöglichte uns die Identifizierung von Gemeinsamkeiten, Unstimmigkeiten und Unterschieden zwischen den sozialen Zielen der kommunalen Verwaltungen und den Zwischen- und Endergebnissen der angebotenen Bibliotheksdienstleistungen. Dies soll nun mit den Politikern und Fachleuten diskutiert werden, die für die Dienste und die Gründe für Gemeinsamkeiten, Unstimmigkeiten und Unterschiede verantwortlich sind, wie sie in den verschiedenen Teilen der Untersuchung analysiert wurden. Wir glauben vor allem, daß Managementprobleme und andere Fragen, die bereits diskutiert wurden, öffentliche Bibliotheken unterstützen oder daran hindern können, ihre sozialen Ziele zu verfolgen. Manager können anhand dieser Informationen die richtigen Aktionen unternehmen, um die Gemeinsamkeiten zu maximieren und die Unstimmigkeiten zu vermindern. Daher ist das social audit ein praktisches Hilfsmitel, um

Der Projektverlauf ließ uns auch die Unterschiede zwischen Zielen und Ergebnissen erkennen. Das heißt, wir haben positive Ergebnisse ausgemacht, die früher nicht einmal als Ziele der Bibliothek oder der Kommune angesehen wurden. Die Rolle der Bibliothek bei der Entwicklung sozialen Zusammenhalts und individuellen und allgemeinen Vertrauens mögen solche Beispiele sein. Gleichzeitig ließ uns die Technik einige nicht beabsichtigte ungünstige Entwicklungen erkennen, die sich manchmal aus den sozialen Zielen herleiten.

Aufgrund der Beschränkungen dieses Projektes konnten wir nur eine begrenzte Anzahl von Teilnehmern einbeziehen. Eine größere Bandbreite von Meinungen hätte vielleicht neue Perspektiven eingebracht. Gleichzeitig hätten weitere, eher auf besondere Dienstleistungen als regional ausgerichtete Untersuchungen zusätzliche Gesichtspunkte eröffnet. Dennoch fühlen wir uns gerechtfertigt, daß das beschriebene Vorgehen von Fachleuten und Politikern angewandt und weiterentwickelt werden kann. Es ist noch nicht perfekt, aber um Blake et al. 1976 zu zitieren:

"Auf Perfektion auf diesem Gebiet zu warten, ist wie 'Warten auf Godot' - Kompetente Manager müssen und können Pioniere sein ... und Experimente wagen, wenn sie sich den sozialen Problemen und Nöten von heute und morgen mit einem gewissen Erfolg stellen und ihre Menschlichkeit behalten wollen."

Wir hoffen, daß andere öffentliche Bibliotheken und ihre Politiker in der ganzen Welt den Kollegen in Newcastle und Somerset folgen und an weiteren bahnbrechenden und mutigen Experimenten teilnehmen.

Literaturhinweise

Copies of the Final report of the project entitled: New Measures for the New Library, by Rebecca Linley & Bob Usherwood are available from:

Centre for the Public Library In The Information Society, Department of Information Studies, The University of Sheffield, Western Bank, Sheffield S10 2TN, United Kingdom. Price £20.(including post and packing)

Audit Commission (1997): Due for renewal: a report on the library service London Audit Commission.

Blake, D.H., Frederick, W.C. and Myers, M.S.(1976): Social auditing: evaluating the impact of corporate programmes. New York: Praeger.

Comedia. (1993): Borrowed time? The future of public libraries in the UK. Bournes Green: Comedia.

Landry, C. (1993): Fundamental Dilemmas for Public Libraries. (Comedia Working Paper no. 4). London: Comedia.

Patton, M.Q. (1990): Qualitative evaluation and research methods. Newbury Park, CA: Sage.

Roach, P. and Morrison, M. (1998): Public libraries ethnic diversity and citizenship. Centre for Research in Ethnic Relations and Centre for Educational Development, Appraisal and Research. University of Warwick. (British Library Research and Innovation Report 76)

Smith, P. (1996): 'A framework for analysing the measurement of outcome' in Smith, P. (Ed.) Measuring outcome in the public sector. London: Taylor and Francis.

Thomas, W. (1928) The child in America. New York. Alfred A Knopt.

Zadek, S. and Evans, R. (1993): Auditing the market: a practical approach to social auditing. Gateshead: Traidcraft / New Economics Foundation.

*) Deutsche Fassung eines Vortrags auf der Internationalen Konferenz "Die medienkompetente Bibliothek", Berlin, 6. - 10. Dezember 1998.


Stand: 08.04.99
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