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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 3, 99

Brauchen wir die Dewey-Dezimalklassifikation?

Holger Knudsen

1. Einführung

In ihrem Bericht "DDB und DDC - Die Deutsche Bibliothek und die Dewey-Dezimalklassifikation"1) listet Magda Heiner-Freiling die beiden Hauptnachteile der DDC (von den Bibliothekaren nur schwer zu erlernen, von den Benutzern nicht zu verstehen) an gleich mehreren Stellen so überzeugend auf, daß ihre Schlußfolgerung ("...ergibt sich ... eine einmalige Gelegenheit, um ... die Unterhaltsträger und Förderungsgremien vom Sinn eines solchen Vorhabens zu überzeugen. Diese Chance sollte man nicht verpassen....")2) einigermaßen verblüfft. Sollte denn nicht Zweck der "Sacherschließung" sein, die "Sachen zu erschließen", also durch kluge Beschreibung den Benutzern (unseren Kunden!) zugänglich zu machen? Welchen Sinn könnte wohl die Einführung einer Klassifikation haben, die diesem Anspruch nicht genügt? Soll man Benutzern und Bibliothekaren (in dieser Reihenfolge) eine Klassifikation zumuten, die - sicherlich von einer Spezialistin und sicherlich im vollen Stolz um berufliches Können - wie folgt beschrieben wurde: "Coming to terms with Dewey is like playing the piano ... A simple tune can be picked out with relative ease, but to play the classification as a virtuoso can take a lifetime of study and practice"3). Eine Klassifikation, die bei einer Vergleichsstudie schon im Jahre 1941 (!) als "admittedly out of the question"4) bezeichnet wurde?

Magda Heiner-Freiling schreibt: "Die DDC ist nicht einfach zu erlernen und anzuwenden; Erfahrungen im Klassifizieren sind bisher kaum vorhanden". Nun, ich habe die DDC (so gut es eben ging) erlernt und angewandt und mir deshalb eben diese Erfahrungen unter recht unerfreulichen Umständen erworben. Denn ich habe in einer Bibliothek gearbeitet, in der die DDC nach kurzer Zeit wieder abgeschafft und durch eine bessere Klassifikation ersetzt wurde.

Ich hätte nie geglaubt, daß in Deutschland die Einführung der DDC einmal ernsthaft diskutiert werden würde und meine Erfahrungen deshalb für deutsche Leser von Relevanz sein könnten,5) aber nach dem jetzigen Stand der Dinge scheint es mir doch sinnvoll zu sein, sie einmal darzulegen. Vielleicht ist noch nicht jedem klar, was die Anwendung der DDC in der Praxis bedeutet!

2. Melvil Dewey

Melvil Dewey (1851 - 1931) "erfand" die DDC, wie er selbst berichtete,6) an einem Frühlingssonntag des Jahres 1873, um sich im College bei einer langweiligen und langwierigen Vorlesung wachzuhalten. Sein Leben ist vielfach beschrieben worden,7) eindrucksvoll der kurze Lebensabriß durch seinen Sohn: "Es ist keine einfache Aufgabe, ein so vielseitiges Genie wie meinen Vater in wenigen Worten zu beschreiben. Wenn man jede seiner Hauptaktivitäten in nur einem einzigen Satz aufzählen würde, bräuchte man schon zuviel Platz ... Mit noch nicht einmal 25 Jahren hatte er die erste Ausgabe der DDC ausgearbeitet und veröffentlicht, das Library Journal geschaffen und drei nationale Organisationen gegründet: die American Library Association, die Spelling Reform Association und das Metric Bureau. Mit noch nicht einmal 40 Jahren hatte er das Library Bureau , ... und die erste amerikanische Bibliotheksschule an der Columbia Universität gegründet, ... war Secretary of the Regents of the University des Staates New York, die für die gesamte höhere Bildung im Staat zuständig waren ... und war gleichzeitig Direktor der Staatsbibliothek, der staatlichen Bibliotheksschule und der Bildungsbehörde des Staates, die er gegründet hatte..."8). Dewey wandte sich dann, in seiner zweiten Lebenshälfte, weiteren, nicht-bibliothekarischen Aktivitäten zu. Wahrlich ein ausgefülltes Leben. Wahrlich ein eindrucksvoller Mann.

3. Philosophie und System der DDC

Seit ihrer Erstveröffentlichung im Jahre 1876 wurde die DDC vielfach verändert - dabei darf man natürlich nicht vergessen, daß es 1876 keine Autos und keine Radios gab, niemand an Biotechnologie und Raumforschung dachte und auch die Weltkarte ganz anders aussah als heute.

Während gegenwärtig die 21. vollständige DDC-Ausgabe aus dem Jahre 1996 (in vier Bänden) und die einbändige 13. Kurzausgabe aus dem Jahre 1997 auf dem Markt sind, sind über all die Jahre acht Hauptmerkmale der DDC weitgehend unverändert geblieben:

Wie der Name andeutet, basiert die DDC auf dem auf arabischen Ziffern beruhenden mathematischen Dezimalsystem, wobei sowohl die arabischen Ziffern als auch das mathematische Dezimalsystem den Vorteil haben, weltweit in Gebrauch zu sein - eine unabdingbare Voraussetzung für eine Systematik mit universellem Anspruch. Es ist das Grundprinzip des Dezimalsystems,9) daß durch das Hinzufügen einer Ziffer zu einer schon existierenden Zahlensequenz eine tiefere Gliederung um den Faktor zehn erreicht werden kann. Dewey nutzte dieses mathematische Gesetz, indem er das Wissen der Welt in zehn Hauptklassen ("main classes" oder "areas of knowledge") aufteilte oder vielmehr, da das Wissen der Welt für eine Aufteilung in Zehnergruppen nun einmal denkbar ungeeignet ist, stopfte. Diese zehn Hauptklassen unterteilte er erneut in zehn Klassen ("divisions"), diese wiederum in zehn Unterklassen ("sections"). Die DDC hat also (zumindest theoretisch) 10 hoch 2 (gleich 100) Klassen und 10 hoch 3 (gleich 1000) Unterklassen. Sie kann beliebig weiter unterteilt werden, es ist aber Standard, daß nach den ersten drei Ziffern ein Punkt zu setzen ist.

Eine ganz typische Hierarchiesequenz der DDC sähe wie folgt aus (ich habe gerade dieses Beispiel gewählt, da seine Zusammensetzung ausnahmsweise nach "Option A" und "Option B" - s. nachfolgend 5.- identisch ist):

Das sieht nun in der Tat recht einfach aus. Ist es aber nicht. Das liegt daran, daß an praktisch jede Klasse weitere Gliederungselemente angehängt werden können, und zwar solche allgemeiner Art (standard subdivisions, z.B. 025 = Adressbücher oder 074 = Museumsführer) und sonstiger Art (other subdivisions). Gerade bei diesen wird deutlich, daß die DDC zwar eine Universalklassifikation ist, aber eben die amerikanische Weltsicht widerspiegelt und außerdem durch durchaus geschickte Ausnutzung dezimaler Strukturen auf amerikanische Verhältnisse und Bedürfnisse zugeschnitten ist. Das ist nicht verwerflich. Nur: warum sollte man eine solche Klassifikation hierzulande anwenden wollen? Einige Kostproben für other subdivisions: Die subdivisions sind im 1. Band der DDC zu finden, der stets zusammen mit dem DDC-Grundwerk (schedules, Bände 2 und 3) zusammen benutzt werden muß, welches wiederum durch Index und Manual (4. Band) erschlossen wird. Das Anhängen von subdivisions ("number-building") kann zu sehr langen und unverständlichen Notationen führen. Einige Beispiele, alle aus der British National Bibliography11): "Resources for women's history in Greater Manchester" = 016.3054094273; "Reading Rodney King - reading urban uprising" = 305.896073079494; "Chronic diseases in the year 2005" = 362.1962409492; "Black American cinema" = 791.4308996073; "A guide to selected climbs on one hundred Peak District outcrops" = 796.52230942511.

Noch einmal die Frage: welchen praktischen Nutzen könnte die Vergabe solcher Zahlenmonstren haben? Retrieval? Wohl kaum! Internationale Zusammenarbeit? Sehr fraglich! Vielleicht die Arbeitserleichterung bei der Aufnahme deutscher Bücher für Bibliotheken, die die DDC anwenden? Schon eher. Aber rechtfertigt das allein den Bedarf "hochqualifizierter und -motivierter Mitarbeiter, einer effektiven Datentechnik und ausreichender Mittel für Reisekosten, Fortbildung, Kommunikation und publizistische Aktivitäten",12) wenn ansonsten an allen bibliothekarischen Ecken und Enden gespart werden muß?

4. Der Fall des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz

Vor recht genau zwanzig Jahren trat ich meine erste Stelle als junger Bibliothekar am Europäischen Hochschulinstitut (nachfolgend EHI) in San Domenico an, einem kleinen Örtchen, welches am Hügel von Fiesole oberhalb von Florenz liegt. Das EHI ist eine von den Mitgliedsstaaten der EU getragene Hochschule für Postgraduierten-Studien in den Fächern Geschichte, Politische und Sozialwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Recht. Die Bibliothek hatte ihren Betrieb gerade aufgenommen, als gemeinsame Klassifikation für alle Fachgebiete war die DDC (18. Ausgabe) eingeführt worden. Dieser Entscheidung lagen drei wesentliche Gedanken zugrunde: Erstens, mit der DDC konnte für alle am EHI gepflegten Fachgebiete eine gemeinsame Klassifikation verwendet werden, zweitens, sowohl die British National Bibliography als (unter anderem) auch die Bibliografia Nazionale Italiana wandten die DDC an und Bücher in englischer und italienischer Sprache sollten bevorzugt gesammelt werden, drittens, die DDC wird regelmäßig überarbeitet, dies hielt man für zeitsparend.

Das Problem bei der DDC ist aber, daß ihr Schwerpunkt immer inhaltlich und niemals regional ist (Orte, Regionen, Staaten und Kontinente werden eben als subdivision betrachtet und diese lediglich an die Hauptklassen angehängt). Recht ist aber in erster Linie ein örtlich und erst in zweiter Linie ein thematisch definiertes Fach: wenn zwei Bücher über Forderungsverjährung einzustellen sind, davon eins aus Schweden und eins aus Peru, dann erwartet der Benutzer diese Bücher auch bei Schweden und Peru13) und nicht in einem Potpourri namens Forderungsverjährung aus aller Welt. Das Problem hat wenig Bedeutung in Bibliotheken, die ausschließlich ihr eigenes, nationales Recht sammeln. Dann kann die DDC zur Not angewandt werden. Bei Spezialbibliotheken mit übergreifendem Sammelschwerpunkt ist sie hingegen unangemessen. Dies wurde auch am EHI sehr schnell für jedermann deutlich. Mit Hilfe der DDC war dort relevante Literatur systematisch über den Katalog nicht zu ermitteln. Die Beschwerden der entnervten Leser, die sich in ihrer Arbeit gehindert fühlten, wurden immer stärker und kulminierten in einem Machtwort des Dekans: "The law section of the library must be completely reclassified. I know what trouble that will entail, from altering computer data to relabelling and reshelving. But it is no exaggeration to say that as a scheme to render a law collection as useless as possible the present arrangement under the Dewey Decimal Classification could hardly be equaled. Unless the law section of the library is to be held up to the world as a model of misarrangement, the unpleasant task cannot be avoided".

Schließlich wurde ein auswärtiger Spezialist gefunden (W.A. Steiner, damals Direktor der Bibliothek des Institute for Advanced Legal Studies in London), der eine neue Systematik entwarf, die noch heute und zur allgemeinen Zufriedenheit in San Domenico verwendet wird.

5. Warum die DDC für Rechtsbibliotheken unbrauchbar ist14)

"Könnte die DDC ein attraktives Angebot sein"15) für Juristen? Wohl eher nein. W.A. Steiner unterzog die DDC einer eingehenden analytischen Prüfung und listete die ihr immanenten Fehler auf zehn engbeschriebenen Seiten auf, die zu meinem Bedauern leider nie veröffentlicht wurden. Manche dieser Fehler sind durch die 19. bis 21. Auflage der DDC beseitigt worden, manche sind zu speziell und eignen sich nicht für eine Darstellung an dieser Stelle, wieder andere aber bilden heute noch ein Problem, welches auch auf die starke Abhängigkeit der Anwender von amerikanischer Bibliotheksphilosophie hindeutet. In ungebührlicher Kürze seien sie genannt:

Preisfrage zum letzten Beispiel: welche "4" steht wofür? Antwort: Da die DDC identische Ziffern für die verschiedensten Zwecke und Bedeutungen verwendet, können das nur Eingeweihte wissen, die das "number-building" in allen Facetten beherrschen. Die DDC ist deshalb geeignet für intellektuelle und durchaus auch anregende Spielereien auf hohem Niveau, für klassifikatorische Zwecke hingegen ist sie - man kann es gar nicht oft genug wiederholen - ungeeignet.

Um der wiederholten Kritik an der Klasse 34 (Recht) zu begegnen, haben die für die DDC Verantwortlichen schließlich seit der 19. Auflage der DDC (1979) mit der sog. "Option B"16) ein System zugelassen, welches eine Klassifizierung zunächst auf der Basis von Regionen nach den "area codes" zuläßt, und erst dann eine Untergliederung nach Themen vorsieht. Dieses System wird z.B. von der British Library angewandt. Danach stünde dann z.B. die Sequenz 344 nicht mehr für Sozialrecht, sondern für Europa. Mit der Einführung der "Option B" erwuchsen aber nach Art der griechischen Hydra automatisch drei neue Probleme: Erstens, niemand kann eine Rechts-Klassifikation nach DDC mehr genau entziffern, wenn nicht die zugrundeliegende Option bekannt ist (nicht so schlimm, diese Kunst beherrschen sowieso nur wenige), zweitens: bei der Anwendung der DDC müssen die complementary tables noch intensiver konsultiert werden als ohnehin schon bei der "Option A", denn die "Option B" muß man sich selbst zusammenbasteln, da sie in den schedules nicht enthalten ist (ziemlich schlimm), drittens: für die Klasse 34 hat die DDC ihren universalen Anspruch aufgegeben. Und das ist sehr schlimm. Die DDC ist auch aus diesem Grunde als Grundlage und Rechtfertigung für internationale Kooperationen ungeeignet.

1) BIBLIOTHEKSDIENST 1998, S.2120 - 2131

2) ebd., S. 2130

3) Barbara Bryant, Numbers you can count on, in: LC Information Bulletin 1993, S. 373

4) Oscar C. Orman, Law library classification, in: Library Quarterly 1941, S. 216

5) Meine Erfahrungen beschrieb ich für (ganz überwiegend) ausländische Kollegen: "Dewey Decimal Classification - the Case of the European University Institute's Library in Florence, Italy", in: Catalonia, Spain, Europe and Latin America - Papers Presented at the 12th International Association of Law Libraries Course on International Law Librarianship in Barcelona (ed. by Goedan and Reams). Buffalo, Hein, 1995, S. 309 - 318. Der hier vorgelegte Artikel basiert zum Teil auf dem damaligen Vortrag.

6) The Dewey Decimal Classification. Vorwort zur 18. Ausgabe der DDC (1971), S. 3

7) Z.B. in Encyclopedia of Library and Information Science (1968), Bd. 5, S. 142 - 158

8) Godfrey Dewey: "Melvil Dewey". Vorwort zur 18. Ausgabe der DDC (1971), S. 1 (Übersetzt vom Verfasser).

9) Übrigens auch des metrischen Systems, dies könnte Deweys Einsatz für das Metric Bureau erklären.

10) Die Ziffer Null hat innerhalb der DDC die ausschließliche Bedeutung, anzuzeigen, daß weitere Gliederungselemente (subdivisions) angehängt wurden.

11) Wir gehen davon aus, daß die englischen Kollegen bei der Vergabe keinen Fehler gemacht haben, s. dazu Nöthers Bemerkungen zu fehlerhaften Notationen in der British National Bibliography, zit. nach Heiner-Freiling a.a.O., S. 2129.

12) Ebd., S. 2128

13) Das gilt analog - und weniger exotisch - z.B. auch für Lehrbücher zum Landesbaurecht aus Sachsen oder Hessen.

14) Möglicherweise ist die DDC bei anderen Fächern ebenso fehlerbehaftet wie beim Recht; mir fehlt die Kompetenz, dies zu beurteilen.

15) Ebd., S. 2125

16) Es gibt - dies nur am Rande - auch noch eine "Option C". Diese ist nun aber so konfus geraten, daß die Klassifikatoren selbst (in den Anleitungen zu den schedules) von ihrem Gebrauch abraten. Eine nähere Darstellung verbietet sich an dieser Stelle.


Stand: 10.03.99
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