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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 2, 2000

Inkunabeln im Internet

Ein Digitalisierungsprojekt der Bayerischen Staatsbibliothek

Marianne Dörr, Astrid Schoger

 

1. Hintergründe und Projektkonzeption

Inkunabeln sind als älteste Zeugnisse der Druckgeschichte wertvoll, selten, oft unikal und der Öffentlichkeit allenfalls in gelegentlichen Ausstellungen zugänglich. Die Bayerische Staatsbibliothek besitzt die zweitgrößte Inkunabelsammlung der Welt nach der British Library. Im Rahmen des von der Volkswagen-Stiftung geförderten Projekts "Sammlung Deutscher Drucke" konnte die BSB ihren Bestand noch um einige wertvolle Exemplare vermehren. Das Digitalisierungszentrum an der Bayerischen Staatsbibliothek1 hat im Rahmen des DFG-Programms "Retrospektive Digitalisierung von Bibliotheksbeständen" ein Projekt zur Digitalisierung von "deutschen druckgraphischen Buchillustrationen des 15. Jahrhunderts", also von Inkunabel-Illustrationen, durchgeführt. Es handelt sich ausschließlich um Holzschnitte unterschiedlicher Qualität und Feinheit. Etwa 30% der Drucke sind handkoloriert. Ab der Dürerzeit wird diese nachträgliche Kolorierung seltener, die Holzschnitte weisen stattdessen eine differenziertere Binnenzeichnung auf und das Verfahren des Drucks von mehreren Platten (Strich und Tonplatte) erweitert die Gestaltungsmöglichkeiten. Mit der Konzentration des Projekts auf die Inkunabel-Illustrationen ist das Angebot einer such- und navigationsfähigen Erschließung der Bildinhalte verbunden, die es bisher in dieser Form noch nicht gab. Damit ist es gelungen, ein Angebot sowohl für die kunsthistorische Forschung als auch für eine breite Öffentlichkeit zu schaffen: Illustrationen können einen unmittelbaren Zugang vermitteln, die Inkunabeltexte dagegen – auch die deutschsprachigen - erschließen sich Laien nicht ohne weiteres.

Natürlich konnten in dem Projekt nicht alle illustrierten Inkunabeln der BSB berücksichtigt werden. Es wurden 76 Titel ausgewählt, die einen repräsentativen Querschnitt durch die illustrierten Gattungen der Zeit vermitteln. Vertreten sind hauptsächlich Werke der weltlich-literarischen Erzähltradition (z.B. Melusine), der religiösen Literatur (Bibel, Plenarien, Heiligenlegenden), Pflanzen- und Kräuterbücher, Chroniken. Die Schedelsche Weltchronik wurde als einziges Werk komplett - also inklusive der reinen Textseiten - digitalisiert. Es wurde darauf verzichtet, mehrere Ausgaben eines Titels zu digitalisieren, auch wenn sich das Bildmaterial in der einen oder anderen Illustration unterschieden hätte. Im Regelfall wurden auch keine Titel ausgewählt, bei denen sich das Bildmaterial ständig wiederholt: Die Verwendung der gleichen Bildstöcke, teilweise mit wechselnden Unterschriften, ist ein sehr häufiges Phänomen der Zeit - bei den Benutzern des Internet-Angebots würde es aber vermutlich auf wenig Verständnis stoßen, immer gleiche Bildfolgen zu sehen.

Die Digitalisierung sollte einerseits die Präsentation im Internet in einer der gängigen Leitungs- und Übertragungskapazitäten entsprechenden Qualität ermöglichen, andererseits aber reprofähige Vorlagen der Drucke erzeugen, um (häufige) Reproduktionswünsche künftig vom Digitalisat ohne erneute Belastung des Originals erfüllen zu können. An diesen Vorgaben orientierte sich ihre technische Durchführung.

2. Verfahren und Technik der Digitalisierung

Grundsätzlich standen zwei Möglichkeiten zur Wahl: eine Digitalisierung vom Mikrofilm bzw. Ektachrom oder eine Digitalisierung vom Original. Verfilmungen in ausreichender Qualität lagen nicht vor, es musste also entweder neu verfilmt oder digitalisiert werden. Für Reproduktionswünsche sollte zukünftig das Digitalisat und nicht mehr ein Film zur Verfügung stehen, was den Film aus dieser Sicht entbehrlich machte. Für die Digitalisierung vom Original sprach die erwartete höhere Qualität der Aufnahmen bei der Farbwiedergabe, denn das Problem der potentiell doppelten Farbverschiebung vom Original zum Film, vom Film zum Digitalisat stellt sich damit nicht. Nur eine eventuell höhere Beanspruchung des Originals bei der Direktdigitalisierung durch die etwas längeren Aufnahmezeiten war zu berücksichtigen. Bei der Projektplanung (1997) war die Direktdigitalisierung in Bibliotheken noch nicht in größerem Maßstab praktiziert worden, dies war jedoch auch ein Anreiz, Erfahrungen mit dem Verfahren zu gewinnen.

Als Kamera wurde die Progres3012 der Firma JenOptik (früher Kontron) ausgewählt, die von einem Dienstleister aus der Verfilmungsbranche bereits im Routineeinsatz (nicht nur zur Erzeugung einzelner Bilder) erprobt worden war. Das maximale Auflösungsvermögen der Kamera beträgt 3.500 x 4.500 Bildpunkte = 384 dpi bezogen auf DIN A 4 und 36 Bit Farbtiefe, die durch das verwendete Scan- und Bildverarbeitungsprogramm (Photoshop) auf 24 Bit reduziert wurden.

Für unterschiedliche Vorlagengrößen standen unterschiedliche, auswechselbare Objektive zur Verfügung. Die verfügbare Scan-Auflösung wurde voll ausgenutzt – bei der Farbtiefe wurde jedoch unterschieden zwischen schwarz-weißen und farbigen Vorlagen. Die schwarz-weißen Drucke wurden mit 8 Bit, d.h. 256 Graustufen digitalisiert, nur für die farbigen wurde die verfügbare Farbtiefe von 36/24 Bit genutzt.

Zur Beleuchtung kamen IR- und UV-gefilterte Halogenlampen zum Einsatz. Die notwendige Belichtungszeit lag zwischen 30 und 45 Sekunden. Das ist mehr als bei einer Verfilmung, wurde von den Restauratoren unseres Instituts für Buch- und Handschriftenrestaurierung nach Messungen aber als verkraftbar eingestuft.

Da eine Zerlegung der Inkunabeln in einzelne Blätter nicht denkbar war, musste eine buchschonende Auflage gewählt werden. In Kooperation mit dem Dienstleister entschieden wir uns für die Einzelseitendigitalisierung und den Standardeinsatz einer sogenannten Buchschwinge, die eine Buchöffnung von 90° ermöglicht. Der Einsatz von Glasplatten, um die Vorlage offen zu halten war notwendig, aber es wurde kein massiver Druck auf die Seite bzw. den Buchblock ausgeübt.2 Auch bei Büchern, aus denen mehrere hundert Aufnahmen gemacht wurden, trat keine Schädigung des Buchrückens bzw. des Einbands auf. Nur für einige wenige großformatige Vorlagen wurde die sogenannte Buchwippe, ein Vorlagentisch mit zwei verschiebbaren Platten, die den Buchrücken frei lassen, verwendet.

Durchgeführt wurde die Digitalisierung in der Bayerischen Staatsbibliothek mit eigenem, eigens für das Unternehmen geschultem Personal, das gesamte Equipment (Kamera, Beleuchtung, Vorlagenhalterung, d.h. Buchschwinge, Buchwippe, Scan-Arbeitsplatz-Rechner, Zweitrechner für Qualitätskontrolle und CD-Brenner) war aber vom Dienstleister gestellt worden.

Gerätekalibrierung und Farbmanagement

Die Kamera war auf den sogenannten Macbeth-Farbchart kalibriert. Täglich war eine softwaregesteuerte Neukalibrierung notwendig.

Bei der Digitalisierung wurde ein Kodak-Farbchart mit integriertem Maßstab mit aufgenommen. Im Hinblick auf den Schutz des Originals wurde teilweise eine Reduktion der Beleuchtungsintensität vorgenommen. Dies machte später die Nachbearbeitung einiger Bilder notwendig: Der mitaufgenommene Farbchart wurde mit einem Spektrometer in seinen Farbwerten vermessen, die ermittelten Werte mit den Werten des aufgenommenen Charts verglichen und softwaremäßig eine Korrektur der Farbwerte durchgeführt.

Die in der Farbgebung sehr stark differierenden Ergebnisse von Test-Ausbelichtungen der Bilddateien durch verschiedene Dienstleister, die ihrerseits keine Möglichkeit hatten, auf das Original zurückzugreifen, zeigt im übrigen, wie wichtig die Verständigung über Farbraum und Farbmessung ist. Nur so können farbgetreue Reproduktionen vom Digitalisat erzielt werden. Verfahren des Farbmanagements mit der Erzeugung und Einbettung von ICC3-Profilen waren jedoch zum Zeitpunkt der Digitalisierung (Anfang 1998) noch nicht standardmäßig verfügbar.

Durchführung

Der Workflow der Digitalisierung umfasste eine Reihe von Einzelschritten: Vorauswahl der zu digitalisierenden Inkunabeln, Anlegen von Listen mit den Bogensignaturen der Illustrationen, Sortierung nach Formaten, Scannen, Bildkontrolle von der Festplatte, CD-Brennen, CD-Kontrolle, Löschen der Festplatte. Anhand von tabellarischen Ablaufplänen wurden alle Arbeitsgänge dokumentiert und kontrolliert.

In drei Monaten wurden so 6.377 Seiten aus 76 Inkunabeln aufgenommen. Die meisten tragen eine, manche jedoch mehrere Illustrationen. Einige große Illustrationen (Landschafts- und Städteansichten) konnten nur in Teilen digitalisiert werden und mussten mittels Bildbearbeitungs-Software zusammengefügt werden. Ca. 30% der Bilder sind koloriert und wurden in Farbe digitalisiert.

Die resultierenden Dateigrößen der "Archivmaster" (unkomprimierte TIFF-Dateien) lagen bei den Farbbildern bei ca. 45 Megabyte (14 MB bei Graustufen). Für die Präsentation im Internet wurde eine in der Auflösung reduzierte Version im JPEG-Format (rund 100 KB) erzeugt.

3. Erschließung der Illustrationen

Die Hauptarbeit liegt bei der Erschließung der Bildinhalte. Im Hinblick auf internationale Standards, die in Zeiten des Internet und der potentiell weltweiten Rezeption natürlich an Gewicht gewonnen haben, fiel die Entscheidung für eine Erschließung nach der kunsthistorischen IconClass-Systematik (IC).4 Die IconClass-Systematik, die z.B. auch durch ihre Verwendung im Foto-Archiv Marburg5 noch ständig erweitert wird, versucht, unter zehn Hauptklassen (Religion, Magie, Natur ....) potentiell alle Kunstobjekte und Inhalte zu verorten. IconClass wurde auch im partiell vergleichbaren Projekt zur Digitalisierung und Erschließung der Broadside Ballads der Bodleian Library of Oxford6 angewendet.

Die Erschließung im Inkunabel-Projekt zielt darauf ab, möglichst eine passende Beschreibung der dargestellten Szene als Ganzes zu ermitteln, sie nicht wie bei einer realienkundlichen Erschließung in die Einzelelemente aufzulösen (Beispiel: "Schlacht" und nicht "Pferd, Ritter, Lanze"). Es können pro digitalisierter Seite bis zu zwei Systemstellen vergeben werden. Bei mehreren Bildern muss auf übergeordnete Systemstellen zurückgegriffen werden. In die zur Erfassung verwendete relationale Datenbank (MS-Access) werden die Systemstelle sowie die deutsche und die englische verbale Beschreibung aufgenommen. Dies kann schnell und sicher über "copy and paste" geschehen.

Ferner sieht das Erschließungsraster ein Feld für im Original vorhandene Bildunter- bzw. -überschriften vor und ein Feld "freie Bildbeschreibung". Das gibt die Möglichkeit, Elemente aufzunehmen, die von der Systematik nicht abgedeckt werden, die aber suchbar sein sollen. Außerdem können Begriffe der Bildunterschrift hier in neuhochdeutschen und damit retrievalgeeigneten Formen erfasst werden.

Digitalisiert wurden nur die Illustrationen, trotzdem sollte ein Zugriff über die bibliographischen Daten des Gesamtbuchs gegeben sein. Vorleistungen waren nutzbar: Die maschinenlesbaren Aufnahmen des Incunabula Short Title Catalogues (ISTC)7 wurden als Grundlage der bibliographischen Beschreibung ausgespeichert und in die Erfassungsdatenbank eingelesen. Die in der ISTC-Aufnahme enthaltenen bibliographischen Nachweise blieben voll erhalten; so ist auch jeweils die Nummer aus dem Gesamtverzeichnis der Wiegendrucke (GW) angegeben. Wenn das Projekt einer digitalen Verfügbarkeit des GW voranschreitet, erlaubt dies eine zusätzliche Nutzung der dort verfügbaren umfangreicheren bibliographischen Information.

Ergänzt wurden die ISTC-Aufnahmen um teilweise abweichende Namens- und Titelformen aus der deutschen Inkunabelkatalogisierung, d.h. dem Inkunabelkatalog der Bayerischen Staatsbibliothek. Weiterhin wurde ein inhaltliches Abstract und/ oder eine kurze druckgeschichtliche Einordnung des Titels verfasst und in die Datenbank aufgenommen, das mehr Kontextwissen vermittelt und damit das Verständnis erleichtert.

Die Art der Erschließung wird sicherlich nicht allen denkbaren Fragestellungen gerecht, realisiert aber eine ganze Palette an neuen Zugriffsmöglichkeiten, die sich noch mit pragmatisch vertretbarem Aufwand erzielen ließen.

4. Präsentation und Internet-Angebot

Das Angebot ermöglicht drei unterschiedliche, miteinander vernetzte Zugriffe:

Ferner werden für die strukturierte Suche nach den bibliographischen Daten der Inkunabeln und den Informationen aus den Abstracts Suchformulare zur Verfügung gestellt. Eine Volltextsuche ist von jeder Stelle des Angebotes aus möglich.

Die Darstellung der Bilder enthält jeweils ein Thumbnail der Illustration, von dem aus das Vollbild im JPEG-Format erreichbar ist. Ferner enthält die Darstellung einen Link zu den bibliographischen Daten der Inkunabel sowie zu der Notation im systematischen Kontext von IconClass.

Graphik 1 (Screenshot -- Hug Schapler)

Wählt ein Benutzer als Einstieg die Systematik, so kann er mit Klick auf eine Notation eine Suche über alle Bildbeschreibungen auslösen und erhält alle mit dieser Systemstelle beschriebenen Illustrationen.

Graphik 2 (Screenshot - Buchillustrationen: Systematischer Index)

Analog wird in den alphabetischen Registern von jedem Stichwort aus eine Suche über alle Bildbeschreibungen ausgelöst.

Graphik 3 (Screenshot - Buchillustrationen: Alphabetischer Index)

Das verwendete Präsentationssystem (DynaText/DynaWeb) setzt Daten voraus, die mittels der Auszeichnungssprache Standard Generalized Markup Language (SGML) strukturiert sind.

Der Wunsch, die Bilder im Kontext der Inkunabeln anzubieten, die geplanten Verknüpfungen zu den Metadaten der Inkunabeln, zur Systematik und zum alphabetischen Register stellten Anforderungen, die von keiner öffentlich verfügbaren Document Type Definition (DTD) direkt erfüllt wurden. Deshalb haben wir drei speziell an diese Anforderungen angepasste DTDs entwickelt.

Die Auszeichnung (das Tagging) der in der Access-Datenbank erfassten Daten entsprechend dieser DTDs erfolgt bei der Ausgabe aus der Datenbank mittels Serienbrieffunktion. Die Zusammenführung der bibliographischen Daten und der Bildbeschreibungen, die Einordnung der Notationen in die Systematik sowie die alphabetische Sortierung der Stichwörter wird mit drei in der Programmiersprache Perl geschriebenen Skripten geleistet.

Mit der Digitalisierung, Erschließung und Aufbereitung der Inkunabelillustrationen ist so ein komplexes Präsentationsangebot entstanden. Es steht unter der Adresse: http://mdz.bsb.badw-muenchen.de:6336/digbib/inkunabeln frei zur Verfügung. Die Erschließung der Illustrationen ist noch nicht ganz abgeschlossen, das Angebot wird jedoch sukzessive, dem Fortgang der Erschließung folgend, erweitert.

5. Ausblick

Die Präsentation ist auf eine Nutzung via Internet-Browser ohne weitere Software angelegt. Weitere bei der Digitalisierung und dem Angebot von Bildern prinzipiell wünschenswerte technische Features können deshalb derzeit nicht angeboten werden: z.B. ein Zoomen oder Ausschneidefunktionen, die Zusammenstellung persönlicher Sammlungen etc. Denkbar sind Formen der Weiterverarbeitung oder der separaten Edition für einzelne Titel mit CD-ROM-Software-Produkten. Ein Lieferdienst für die Bilddaten in höherer Qualität ist in Vorbereitung.

Die Zugriffszahlen auf den Server des Digitalisierungszentrums haben sich schon nach dem Angebot des Prototyps der Inkunabel-Illustrationen verdoppelt. Das beweist, welche Zugkraft und welches Interesse das Angebot wertvoller und kulturgeschichtlich relevanter Beispiele der Druckkunst hervorrufen können - ein Anreiz auch für das Digitalisierungszentrum, in dieser Richtung weiterzuarbeiten.

 

1 Dörr, Marianne: Das Digitalisierungszentrum an der Bayerischen Staatsbibliothek. In: Bibliotheksdienst 33 (1999), S. 592-600.

2 Ein Bild der Installation mit Buchschwinge ist im Internet unter http://www.bsb. badw-muenchen.de/mdz/ink.htm verfügbar.

3 International Color Consortium

4 IconClass ist auch online zugänglich unter http://iconclass.let.uu.nl/home.html

5 Bildarchiv zur Kunst und Architektur Marburg: http://www.bildindex.de/intro.htm

6 http://www.bodley.ox.ac.uk/ballads/

7 Der ISTC ist online als kostenpflichtiger Dienst über die British Library (BlaiseLine http://www.bl.uk/services/bsds/nbs/blaise/istc_1.html) zugänglich. Da die Bayerische Staatsbibliothek an der Erstellung des deutschen Inkunabelzensus mitarbeitet, wurde einer Nutzung der Daten problemlos zugestimmt.


Stand: 26.01.2000
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