Publikationen Hierarchiestufe höher Vorherige Seite Nächste Seite

BIBLIOTHEKSDIENST Heft 11, 98

"Und wie halten Sie es mit der Internet-Erschließung?"


Bibliothekarische Gretchenfragen von IBIS bis GERHARD

Beate Tröger

Das Internet explodiert - immer mehr Dokumente, Texte, Bilder, Videos, Tonsequenzen usw. werden tagtäglich in ihm abgelegt und der Öffentlichkeit präsentiert. Dieser Trend ist auch im eigentlichen Herkunftsbereich des Internets erkennbar: auch im Kontext der Wissenschaften wird das Web zunehmend als Arbeits- und Publikationsmedium genutzt - oder besser gesagt: es würde genutzt, wenn das Internet denn noch überschaubar wäre, wenn es denn noch ein tatsächliches Medium wäre und sich nicht selbst schon fast zum Inhalt, zum sich selbst genügenden Zweck aufgeschwungen hätte, der das Arbeiten mit und in ihm eigenmächtig diktiert und kanalisiert.

Genau dies aber ist passiert, und so stehen Forschung und Lehre, Schule und Hochschule zunehmend orientierungslos vor einem ständig wachsenden Moloch, der vieles verspricht, vieles bietet und verheißt - aber zugleich diese lockenden Angebote direkt wieder in seinen unergründlichen und chaotischen Tiefen verbirgt. Entsprechend drängender wird der Ruf der Wissenschaften nach Hilfe bei der Suche und Auswahl, der Sonderung des Brauchbaren vom Nicht-Brauchbaren, bei der Systematisierung - ein Ruf nach Hilfe durch diejenigen, die sich auch bei den übrigen medialen Formen um Qualität und Struktur bemühen: ein Ruf also nach Hilfe durch die Bibliotheken.

Solche Hilfe kann und muß sich auf verschiedene Aspekte beziehen. Die Schulung und Beratung von Studierenden und Lehrenden ist ebenso gefordert wie deren Unterstützung beim eigenen Publizieren via Internet. Nicht zuletzt aber gehört hierher ein bibliothekarisches Angebot, das inhaltliche Chaos im Web zu durchforsten, Relevantes von Nicht-Relevantem zu trennen und das nicht durch das Qualitätssieb Hindurchgefallene so aufzubereiten, daß es schnell und effektiv gefunden und genutzt werden kann. Es geht also um Inhaltserschließung.

Inhaltserschließung ist für Bibliotheken immer ein schwieriges und oft ein ungeliebtes Geschäft

Einige Bibliotheken verweigern sich ihm schon bei den Print-Materialien weitgehend; andere reihen auch im Zeitalter relationaler Datenbanken mühsam RSWK-Ketten und plagen sich mit der Tatsache herum, wie denn drei Sachschlagworte mit zwei Zeitschlagworten und einem Geographikum zusammengeschweißt und wie sie denn korrekt permutiert werden können. Auch läßt sich trefflich darüber streiten, welche Systematik zu verwenden sei: die Dispute über die zweitunterste Ebene der Regensburger Systematik im Gegensatz zur drittuntersten Ebene der UDK füllten früher ganze Zeitschriften und heute ganze Mailing-Listen. Allen solchen bibliothekarischen Schwierigkeiten zum Trotz aber ist sinnvolle Inhaltserschließung ein Desiderat, das von Nutzerseite immer wieder angemahnt wird - angemahnt für die klassischen Medien einer Bibliothek, zunehmend aber auch für die vielzitierten "Neuen Medien".

Die Evaluierung eines Internet-Erschließungsprojektes, die zu Beginn des Jahres 1998 an der Universität Dortmund durchgeführt wurde, hat diesen Wunsch nicht zum ersten Mal deutlich gezeigt. Hier wurden Studierende und Lehrende um eine Stellungnahme zur gegenwärtigen und zur zukünftigen Bedeutung bibliothekarischer Internet-Erschließungen gebeten - allgemein und für ihre eigene wissenschaftliche und lehrende Arbeit. Die Ergebnisse waren signifikant: Ein Erschließungsangebot der Bibliotheken wurde sehr begrüßt, die Unterschiede zu allgemeinen Suchdiensten, aber auch zu sog. Internet-Katalogen wie etwa Dino oder Yahoo!wurden klar benannt und hervorgehoben. Vor allem die Wissenschaftler betonten diese Qualitätsunterschiede, aber auch die Studenten artikulierten ihren Bedarf.

Dieses Ergebnis wird von anderen Befragungen bestätigt. So fand beispielsweise an der Universitäts- und Landesbibliothek Münster schon Mitte 1995 eine Analyse zur Internet-Benutzung der eigenen Bibliothekskunden statt1). Als Desiderate eines bislang nicht befriedigten Nutzerbedarfes stellten sich dort zwei Bereiche heraus: der Wunsch nach wesentlich verstärkten kompetenten Hilfestellungen und Einführungen in die Internet-Nutzung von Seiten der Bibliothek, ein deutlicher Schulungsbedarf also, und vor allem der dringend geäußerte Wunsch nach einer bibliothekarischen Bewertung von Internet-Quellen unter fachlichen Gesichtspunkten. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch andere Studien.

Interessant ist hierbei, eine Parallelbefragung aus Münster zu betrachten, in der zeitgleich zu der schon beschriebenen Untersuchung unter anderem auch Bibliothekare um Stellungnahme gebeten wurden zusammen mit Medizinstudenten, Ärzten und Pflegepersonal2). Jeder zweite der Befragten gab an, das Internet täglich nutzen, wobei die entsprechenden Aktivitäten der Bibliothekare deutlich unter dem Durchschnittslevel lagen, obwohl der Berufsstand gleichzeitig diejenige Nutzergruppe bildete, die das Netz als besonders wichtig apostrophierte. Wie auch bei der erstgenannten Studie wurde von den Nicht-Bibliothekaren betont, wie wichtig eine inhaltliche Aufbereitung und eine übersichtliche Präsentation fachlicher Internet-Quellen durch die Bibliotheken sei. Diese Zukunftsvision teilte 1995 allerdings nur jeder fünfte befragte Bibliothekar.

1998 hat sich diese Einschätzung ein wenig verschoben, wie die schon genannte Projektevaluierung aus Dortmund zeigt. Auch hier fand parallel zur universitären Analyse eine Befragung der bundesweit rund 45 Bibliothekare (in der Hauptsache Fachreferenten) statt, die an dem Projekt beteiligt sind. Diese Befragung läßt erkennen, daß die positiven Beurteilungen erschließender Internet-Angebote auf Bibliotheksseite - wenn auch gedämpfter als auf Seiten der Studierenden und Lehrenden - drei Jahre nach Münster allmählich zunehmen: Tendenziell wird 1998 die Bedeutung solcher bibliothekarischer Angebote als "eher groß" bewertet. Trotz der positiven Veränderung aber deckt die Befragung zugleich auch den neuralgischen Punkt des Erschließungsansatzes auf: Die Bedeutung einer bibliothekarischen Internet-Inhaltserschließung wurde zwar als "eher groß" benannt, korrelierte aber in keiner Weise mit der für die Erstellung solcher Angebote zur Verfügung stehenden Arbeitszeit - die nämlich bestand durchschnittlich aus ganzen zwei bis drei Stunden pro Monat3). Das Dilemma wird offensichtlich: Internet-Angebote - und hier vor allem auch die Inhaltserschließungen - beanspruchen unbestreitbar ein großes und offensichtlich nicht zur Verfügung stehendes Zeitkontingent, werden aber, wie man in den Befragungen ablesen kann, ebenso unbestreitbar von der bibliothekarischen Nutzerschaft deutlich gefordert.

Wie verhält sich nun die Bibliothek angesichts dieser klaffenden Lücke zwischen Angebot und Nachfrage?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Reaktion: Man kann erstens das Problem ignorieren. Das scheint absurd zu sein, ist aber an vielen Bibliotheken immer noch gängige Praxis. Sagt man statt dessen jedoch, ignorieren sei auf Dauer auch keine Lösung, dann kann man zweitens sog. Fachinformationsseiten entwickeln. Solche Seiten sind in den meisten Fällen statische HTML-Seiten, die mit viel Schwung und Engagement erstellt wurden, dann aber in fast ebenso vielen Fällen immer wieder brachliegen - aus schon beschriebenen Gründen: die Pflege solcher Seiten ist sehr aufwendig und beansprucht ein oft nicht zur Verfügung stehendes kontinuierliches und keineswegs unerhebliches Zeitvolumen. Hinzu kommt der Umstand, daß die Seiten-Ersteller eigene HTML-Kenntnisse haben sollten, um nicht immer noch angewiesen zu sein auf Kollegen der EDV, die die bibliothekarischen Wünsche dann technisch umsetzen müssen und das Ganze dadurch noch aufwendiger werden lassen. Das Resultat sind entsprechend häufig veraltete Seiten - die zudem oft nicht mehr sind als reine Link-Sammlungen zu den Seiten anderer Einrichtungen: Leider findet sich der Nutzer nicht selten in regelrechten Link-Kreisen wieder, bei denen er am Ende erneut am Ausgangspunkt landet. Diesen Weg zurück sollte er aber eigentlich nur freiwillig über die Back-Taste gehen und nicht zwangsweise über Link-Endlosspiralen.

Was also ist die Alternative? Die beschriebenen Fachinformationsseiten kranken an zwei Stellen: Sie bedienen sich erstens einer unflexiblen und dadurch pflegeaufwendigen Technik und sie erfordern zweitens viel, oft eben zuviel Arbeitszeit. Geht man diesen Problemen nach, liegt die Lösung entsprechend ebenfalls auf zwei Ebenen: Erstens sollte die Technik umgestellt werden hin zu einer komfortablen und in der täglichen Nutzung einfach zu handhabenden Datenbankstruktur und zweitens sollte die Arbeitsbelastung auf ein realistisches Maß reduziert werden durch Kooperationen, wie sie bei der Formalerschließung seit Jahren erfolgreich praktiziert werden. Es muß nicht von allen 40 Fachreferenten der Germanistik in Deutschland jede Woche der Link auf das Institut für Deutsche Sprache in Mannheim überprüft werden - es reicht, wenn das einer macht oder noch besser: wenn die Datenbank selbst das übernimmt. Ist der Fachreferent von solcher Pflege- und Routinearbeit entlastet, kann er sich den tatsächlichen inhaltserschließenden Aufgaben widmen, also über die reine Link-Sammlung der Fachinformationsseiten hinausgehen und den studienrelevanten Internet-Text über Thomas Mann inhaltlich so aufbereiten, daß er für die Studierenden auch auffind- und nutzbar wird.

Diese Inhaltserschließung kann er anschließend neben die 39 Aufbereitungen stellen, die gleichzeitig seine übrigen Fachkollegen bundesweit gemacht haben: Rechnet man das hoch, kommt eine erkleckliche Summe sinnvoller Inhaltserschließungen zusammen, die den Nutzern wirkliche wissenschaftliche Hilfestellungen geben - und von ihnen ja deutlich angemahnt werden, wie die Befragungen zeigten.

Das Projekt IBIS

Diese Idee einer kooperativ gefüllten Datenbank war die Grundlage des Projektes, dessen Dortmunder Evaluierung bereits thematisiert wurde: der Fachreferatskomponente des Projektes IBIS, des Internetbasierten BibliotheksInformationsSystems4). IBIS startete zu Beginn des Jahres 1997 als ein ambitioniertes Unternehmen, dessen Grundidee aus dem täglichen klein-klein der beschriebenen Fachinformationsseiten auszubrechen versuchte. Geplant war, durch bibliothekarische Zusammenarbeit eine breite Erschließungsstruktur aufzubauen mit tatsächlich für Wissenschaft und Forschung Relevantem. Fachleute, also in der Regel die jeweiligen Fachreferenten der Hochschulbibliotheken, sollten ihrer direkten Zielgruppe, ihrer spezifischen Klientel ein sinnvolles Angebot für das Studium bzw. für die Lehre entwickeln. Technische Basis war und ist dabei eine komfortable Datenbank; die inhaltliche Struktur der Datenbank unterliegt im Hintergrund den aktuellen internationalen Standards, also etwa einer Konkordanz zum Dublin Core Metadata Element Set5). Die intellektuell erfolgende Erfassung selbst sollte in chiastischer Struktur zum hohen technischen Level so unaufwendig wie möglich sein. So wurde etwa keine RAK-NBM-Aufnahme gefordert - wer Wert darauf legt (etwa hinsichtlich eines Abgleiches mit der PND), kann per Kreuzchen-Klick eine entsprechende Titelaufnahme von der Katalogisierungs-Crew des HBZ, also der NRW-Verbundstruktur, erbitten.

Den Nutzern wird eine Such- und eine Browsing-Funktion angeboten. Die Suche erfährt im Hintergrund Unterstützung durch die in der ULB Düsseldorf weiterentwickelte Software MILOS6).MILOS faßt über eine semantische Analyse Schlag- und Stichworte mit ihren "Umfeldbegriffen" zusammen, gibt bei der Suche im Singular auch die Treffer im Plural aus, führt konjugierte Formen auf die Grundform zurück etc. - eine fehlerträchtige Laien-Suche in IBIS wird also quasi abgefedert. Die IBIS-Browsingfunktion bietet zugleich eine Art Aufstellungskatalog an: entlang einer Systematik kann sich der Nutzer das fachliche Umfeld ansehen, das er braucht.

Die IBIS-Idee kooperativer Internet-Erschließung wurde in Wissenschafts- und Bibliothekskreisen viel beklatscht - in der Realisierung allerdings gab und gibt es Schwierigkeiten. Das zentrale Problem ist auf den ersten Blick zu erkennen, sucht man in IBIS einmal beispielsweise trunkiert nach "G$" für die Germanistik - eine Suche, die normalerweise in keiner Datenbank gestartet werden sollte, will man nicht unendliche, nicht mehr bearbeitbare Mengen an Treffern erhalten. In IBIS kann man eine solche Recherche leider ungestraft unternehmen, denn die erfaßte Datenmenge ist bislang noch extrem klein: bei einigen Fächern findet man immerhin noch knapp 2.000 Dokumente - bei der gestarteten Suche nach "G$", also der gesamten Germanistik, nur noch 52.

Eine der gravierendsten Ursachen dieses Mankos deckte die beschriebene Projekt-Evaluierung auf: die für die Mitarbeit in IBIS zur Verfügung stehende Arbeitszeit.

Es wurde im Vorfeld des Projektes viel bibliothekarisch gestritten - beispielsweise über die Systematik, die verwendet wurde. Tatsächlich verfolgte das Konzept hier - wie übrigens insgesamt - einen recht pragmatischen Ansatz: zu dem Zeitpunkt, an dem IBIS ans Netz ging, bot sich die dann genutzte Regensburger Systematik als einzige online zur Verfügung stehende Systematik an - so einfach sind manchmal bibliothekarische Entscheidungen. Dieser Pragmatismus fußte nicht zuletzt auf dem Umstand, daß Nutzerstudien neben den genannten noch ein weiteres Ergebnis zeigen: Systematiken werden in der Regel im Zeitalter der OPACs und Datenbankrecherchen zunehmend weniger genutzt. Recherchen laufen in sehr vielen Fällen nur noch über Suchmasken, die entsprechend - wie bei IBIS - über Produkte wie MILOS oder über Bemühungen wie OSIRIS7) in der UB Osnabrück unterstützt werden sollten. Dies bezweifelt nicht etwa den Wert einer guten (Fach-) Systematik - besteht aber die Alternative, die Systematik "XY" zu verwenden oder gar keine Inhaltserschließung zu unternehmen, dann scheint es schon ein ziemlicher bibliothekarischer Luxus, zu fordern: "dann eben gar nichts".

Aber diese und viele weitere Diskussionen um IBIS waren letztlich Scheingefechte. Das Grundproblem von IBIS lag und liegt an einer anderen Stelle - an einer Stelle, an der auch andere ähnliche Projekte intellektuell erfolgender Internet-Inhaltserschließung kranken: das DBI-Clearinghouse für bibliothekarische Internet-Quellen beispielsweise8) oder das BINE-Projekt der Stadtbibliothek Bremen9). Das Grundproblem aller dieser Projekte war und ist die fehlende Arbeitszeit und d.h. in letzter Konsequenz: die fehlende politische Unterstützung der an einer kooperativen Inhaltserschließung Beteiligten in ihren Bibliotheken. Die Arbeit in Internet-Erschließungsprojekten wird bibliothekspolitisch nicht ausreichend sanktioniert, kaum einer der Kollegen wurde etwa für die Mitarbeit in IBIS von anderen Arbeiten freigestellt. IBIS wurde damit zu einem Arbeitsbonbon für besondere Tage, an denen man ‚sonst nichts zu tun hat'.

Das Projekt GERHARD

Ein anderes Projekt geht deshalb einen gänzlich abweichenden Weg - ebenfalls aufsetzend auf der unstrittigen Tatsache, daß Inhaltserschließung des Internets ein deutliches Nutzerbedürfnis ist und als solches immer lauter artikuliert wird. An der UB Oldenburg wurde ein Automatismus namens GERHARD entwickelt ( German Harvest Automated Retrieval and Directory 10)), der kontinuierlich das Netz nach relevanten Ressourcen für die Wissenschaft durchsucht und die gefundenen Treffer automatisch in eine Systematik einordnet. Grundlage hierbei ist die Bestimmung der Server, die durchforstet werden sollen - das sind bei GERHARD alle Hochschul- und Forschungseinrichtungsserver etc. Über diese Server wandert allnächtlich ein Harvester, also eine bestimmte Suchroboter-Art, der die dort liegenden Internet-Seiten sammelt und indexiert.

Das hört sich zunächst gut an: der Mensch lehnt sich entspannt zurück, die Maschine arbeitet für ihn. Der Automatismus hat aber seine Tücken. Zum einen ist das System natürlich hochleistungsfähig, aber dumm - das führt etwa dazu, daß es Seiten, auf denen der Computer-Begriff "windows" steht, der Systemstelle "Architektur" zuordnet. Vor allem aber gibt es Schwierigkeiten mit den Internet-Seiten, die an jeder Hochschule mittlerweile zu Hauf' zu finden sind: Seiten, auf denen notiert ist, daß Professor Karl-Heinz Meier im Fachbereich Altgermanistik Sprechstunde Dienstags von 9-11 Uhr hält. Der nächtlich entlangwandernde GERHARD sieht den in seinem ihm mitgegebenen Wörterbuch enthaltenen Begriff "Altgermanistik" und denkt - systemspezifisch völlig zu Recht - hier sei Indexierungsbedarf. Das bedeutet aber natürlich in der Konsequenz, daß der Nutzer, der am nächsten Morgen in der Systematik oder über die Suchmaske unter "Altgermanistik" sucht, statt des erhofften Textes über Hartmann von der Aue oder das Nibelungenlied allenfalls Herrn Meiers Sprechstunde vorfindet. GERHARD hat dabei nicht das eklatante Mengenproblem von IBIS (für die Germanistik indexiert sind in GERHARD immerhin knapp 900 Treffer) - dafür aber hat das System offensichtlich einige "intellektuelle" Probleme: man erkauft also die Quantität ein Stück weit auf Kosten der Qualität.

Hier nun liegt anscheinend auch nicht das alleinige Heil der Internet-Inhaltserschließung. Was aber dann tun? Soll oder muß man entsprechend doch den Nutzerbedarf einfach ignorieren und sich "totstellen"?

Weiterentwicklung

IBIS hat als Konsequenz der mangelhaften Datenmengen in einem ersten Schritt ein drastisch reduziertes Arbeitskonzept entworfen. Zum einen wurde die Systematik extrem zusammengestrichen - auch die IBIS-Evaluierung zeigte wie andere Studien vor ihr, daß die Nutzer die Browsing-Funktion kaum verwenden. Hier stehen also Erschließungsaufwand und -ergebnis nicht mehr in einer akzeptablen Relation. Die zweite Konzeptpointierung erfolgte über eine inhaltliche Akzentsetzung. Der Schwerpunkt der Arbeit sollte jetzt auf einer Erschließung lokaler Ressourcen liegen: etwa bei den elektronisch publizierten jeweiligen Hochschulschriften. Deren Zahl steigt deutlich an - nicht zuletzt durch entsprechende Angebote von Bibliotheksseite aus. Initialzündungscharakter hatte hier vor allem die Empfehlung der KMK, der Kultusministerkonferenz der Länder, Dissertationen auch elektronisch veröffentlichen zu dürfen11). Erfassen die Bibliotheken verstärkt solche Hochschulschriften, entsteht ein flächendeckendes Netz der Inhaltserschließung, das von Wissenschaftsseite aus immer wieder gefordert wird. Die Chemie etwa sagt von sich, sie lebe zu 40% von den Ergebnissen der Dissertationen. Hier also soll zukünftig der IBIS-Schwerpunkt liegen - inhaltlich sinnvoll begrenzt und zudem arbeitsbezogen "überschaubarer": über entsprechende Verfahren kann man die Autoren als Experten ihrer eigenen Texte verstärkt in die Inhaltserschließung einbinden, indem man sie bittet, zusammen mit ihren Texten Abstracts und Schlagworte abgeben, über die die Mitarbeiter in den Bibliotheken anschließend nur sozusagen bibliothekarisch-subsidiär "darüberschauen" müssen. Die Bibliothek wird so neben dem reduzierten Systematisierungsaufwand auch hier arbeitszeitlich entlastet.

Man kann ein solches Konzept aber noch weiter straffen: man kann nämlich die positiven Seiten der Automatisierungsstruktur zusammennehmen mit denen der intellektuellen Erschließung. So ist etwa vorstellbar, einen automatischen Suchlauf zu starten, der zunächst einmal mögliches Relevantes sammelt; der vernunftbegabte Mensch scheidet anschließend tatsächliches Relevantes von Irrelevantem. Ähnlich kann man mit der Systematisierung verfahren, will man eine Browsing-Komponente beibehalten: das System macht Vorschläge, die der Mensch überprüft. Der Automatismus reduziert damit den Erschließungsaufwand, ohne die qualitätssichernde intellektuelle Erschließung zu eliminieren. IBIS und GERHARD werden sozusagen verheiratet. Eine solche Ehe scheint im Moment die einzige Möglichkeit, Nutzerbedarf und notwendigen bibliothekarischen Arbeits-Pragmatismus sinnvoll zu verbinden. Hierbei sollten nach Möglichkeit auch weitere bibliothekarische Erschließungsansätze einbezogen werden. Die SSG-FachInformationsseiten der Sondersammelgebietsbibliotheken etwa sind wichtige Ergänzung eines solchen Ansatzes nicht zuletzt durch ihren eigenen, besonders gelagerten Anspruch. Wie eben auch bei den Print-Materialien geht es ihnen ja um Vollständigkeit, um dauerhafte Archivierung etc., während IBIS beispielsweise auch hier einer wesentlich pragmatischeren Idee folgt: IBIS will eine stark nutzerorientierte Inhaltserschließung für die schnelle und effektive "Bedarfsbefriedigung" mit durchaus vorhandenem Mut zur Lücke - ein Anspruch ähnlich dem, mit dem auch die Bücher an einer Nicht-SSG-Bibliothek gekauft werden. Beide Ansätze ergänzen sich sinnvoll. Erste Bemühungen um sinnvolle Kooperation haben bereits stattgefunden; hier ist weiteres Zusammengehen sehr wünschenswert.

Das Thema Internet-Inhaltserschließung bietet im Moment eher Ideen, eher erste Schritte als schon alle Probleme lösende Ergebnisse. Es scheint unerläßlich, sich in den Bibliotheken mit solchen Ideen zu befassen: die bibliothekarische Nutzerschaft fordert nachdrücklich bestimmte Leistungen. Nur wenn diese dauerhaft, d.h. eben auch bei den sog. "Neuen Medien" bedient werden, werden wir verhindern, daß sich unsere Klientel - und damit, hier darf man sich gerade im Zeitalter des Globalhaushaltes nichts vormachen, auch unsere Finanziers - anderen Informationsspezialisten zuwenden.

1) Vgl. Obst, Oliver: Untersuchung der Internet-Benutzung durch Bibliothekskunden an der Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) Münster. In: BIBLIOTHEKSDIENST 29 (1995) H. 12 S. 1980-1998. Dort ist auch der verwendete Fragebogen publiziert. Der Text liegt auch im Internet: http://medweb.uni-muenster.de/~obsto/istudie/

2) Vgl. Obst, Oliver: Umfrage zu Internet und Medizin: Was Benutzer von Bibliotheken erwarten. http://medweb.uni-muenster.de/~obsto/imeduse/

3) Bei solchen Ergebnissen ist zudem zu bedenken, daß die Zeitangaben unter Umständen sogar eher noch zu hoch sind: die empirischen Sozialforschung kennt das Phänomen der ‚sozialen Erwünschtheit' beim Antwortverhalten von Befragten.

4) Vgl. http://www.ub.uni-bielefeld.de/netahtml/metb.html
Nähere Informationen zu IBIS in: Bibliotheken erschließen das Netz - bibliothekarische Kooperation zur elektronischen Informationsversorgung von Forschung und Lehre in NRW. Überarbeitete und erweiterte Textfassung. In: Weiter auf dem Weg zur virtuellen Bibliothek! Praxis, Projekte, Perspektiven. Zweite InetBib-Tagung der Universitätsbibliothek Dortmund und der Fachhochschule Potsdam Fachbereich Archiv-Bibliothek-Dokumentation vom 10. - 11. März 1997. Hrsg. v. Beate Tröger und Hans-Christoph Hobohm. Dortmund, Potsdam: 2., erw. Aufl. 1997. S. 23 - 28. http://eldorado.uni-dortmund.de:8080/bib/97/troeger1/htmldoc

5) Vgl. Diann Rusch-Feja: German Metadata Registry, Deutsche Clearingstelle für Metadaten http://www.mpib-berlin.mpg.de/dok/metadata/gmr/gmr1d.htm

6) Vgl. http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/ulb/mil_home.htm

7) Vgl. http://elib.uni-osnabrueck.de/

8) Vgl. http://www.dbi-berlin.de/service/bibres/clearhtm.htm

9) Vgl. demnächst unter http://www.stabi.uni-bremen.de:8888/

10) Vgl. http://www.gerhard.de/

11) Vgl. http://www.ub.uni-dortmund.de/Eldorado/kmk.html
Die Veröffentlichung einer Dissertation gehört zum Prüfungsprozedere und war bislang oft sehr problematisch - etwa durch die Kosten für die Doktoranden bei den Dissertationsverlagen.


Stand: 09.11.98
Seitenanfang