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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 10, 98

Academic Libraries and New Media - Buildings, Design and Organisation

Eine Studienreise britischer wissenschaftlicher Bibliothekare nach Deutschland

Suzette Bell

Der herzliche Empfang und das große Interesse in Deutschland an der Studienreise britischer wissenschaftlicher Bibliothekare wird für jeden der zehn Bibliothekare und einen Architekten, die das Glück hatten, für diese Reise ausgewählt zu werden, eine bleibende Erinnerung sein. Der Besuch fand vom 28. Juni bis 5. Juli 1998 statt. Die Studienreise fing im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Höhepunkt an; mit einer Stadtrundfahrt in München, die die Besichtigung des Olympiaturms auf dem Gelände der Olympischen Spiele einschloß. Eine ausgezeichnete Stimmung herrschte während dieser dichten Folge von Bibliotheksbesuchen, die durch das Goethe-Institut London und München, den British Council in Deutschland, das Deutsche Bibliotheksinstitut in Berlin, die Generaldirektion der Bayerischen Staatlichen Bibliotheken und das Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt geplant und finanziell unterstützt wurden. Die rasch wechselnde Aussicht vom sich drehenden Restaurant des Olympiaturms könnte als ein Symbol gesehen werden für das, was die Bibliothekare in der folgenden Woche sehen sollten: das sich rasch wandelnde Bild wissenschaftlicher Bibliotheken am Ende dieses Jahrhunderts.

Die Ausschreibung der Studienreise im Library Association Record und im Internet hatte großes Interesse bei Bibliothekaren aus England, Schottland und Irland geweckt. Die Teilnehmer, die gemeinsam vom Goethe-Institut London und British Council Köln ausgewählt wurden, kamen sowohl von altehrwürdigen als auch von neueren modernen Universitäten, deren Aufgabenspektrum sich von den traditionellen bis hin zu den neueren, projektorientierten elektronischen Arbeitsfeldern des Bibliotheks- und Informationswesens erstreckt.

Die Studienreise nach Deutschland war eine unmittelbare Folge eines Besuchs einer internationalen Gruppe von Bibliothekaren in Großbritannien im Jahr 1997. Die beiden deutschen Teilnehmer, Klaus Kempf von der Generaldirektion der Bayerischen Staatlichen Bibliotheken und Dr. Jürgen Heeg vom Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt, haben im BIBLIOTHEKSDIENST (32, 1998, H 2) und in der Frühjahrsausgabe 1998 der Zeitschrift Bridges des British Council in Deutschland von diesem Aufenthalt berichtet. Herr Kempf und Herr Dr. Heeg wollten die in Sheffield und Manchester erfahrene Gastfreundschaft erwidern und den Kontakt und fachlichen Austausch zwischen britischen und deutschen Bibliothekaren fortführen und weiter festigen. Der Aufenthalt in Deutschland sollte den britischen Bibliothekaren Gelegenheit bieten, sich von den enormen Fortschritten, die in Deutschland im Hinblick sowohl auf Bibliotheksbauten als auch auf das Serviceangebot im vergangenen Jahrzehnt erzielt wurden, zu überzeugen. Besonders augenfällig ist dies in der früheren DDR, wo seit der Wiedervereinigung beträchtliche Investitionen vorgenommen wurden.

Die Entwicklungen in Deutschland weisen eindeutige Parallelen zu den Veränderungen in Großbritannien auf. Ziel in Großbritannien wie Deutschland ist es, den sich rasch wandelnden Bedürfnissen und Erwartungen der Benutzer gerecht zu werden. In beiden Ländern ist eine Verlagerung von der traditionellen Bestandshaltung hin zum schnellen Zugriff auf Informationen und Ressourcen und zu elektronischen Lieferdiensten zu beobachten. Vor diesem Hintergrund waren die Besuche moderner deutscher Bibliotheken von besonderem Interesse und fielen zudem in eine Zeit, in der viele britische Universitäten Erweiterungen und neue Gebäude planen oder die Umgestaltung bestehender Bibliotheken erwägen. Keine zwei Wochen nach der offiziellen Eröffnung der neuen British Library in London konnten britische Bibliothekare im Neubau der Deutschen Bibliothek in Frankfurt Vergleiche anstellen.

Wieviele Leserplätze müssen mit Computeranschlüssen versehen werden? Auf welche Art und Weise erhalten Leser Zugang zu CD-ROM- und Internet-Datenbanken oder zu elektronischen und digitalisierten Informationsquellen? Diese Fragen und ihre Lösungen, die Auswirkungen haben auf den Standort und die Rolle des Informationsdienstes und die in diesem Bereich beschäftigen Mitarbeiter, wurden während der Führungen durch die neuen wissenschaftlichen Bibliotheken in Bayern, Frankfurt/Main, Göttingen und Halle zwischen britischen und deutschen Bibliothekaren erörtert.

Gemeinsames Merkmal aller besichtigten neuen Bibliotheken war die Verwendung von vier Grundbaustoffen, die eng mit dem Stil in Verbindung gebracht werden, der als die "Stuttgarter Architektenschule" bekannt geworden ist: Beton, helles Holz, graues oder schwarzes Metall und Glas. Von Vorteil erwies sich, daß zu den Teilnehmern der Studienreise ein britischer Architekt aus einem der führenden Büros für Bibliotheksdesign in Großbritannien zählte. Er konnte oftmals den Blick der Bibliothekare für Stärken und Schwächen der Gebäude und ihrer Einrichtungen schärfen. Zwei bekannte deutsche Architekten, die ihre Bibliotheken an der Katholischen Universität in Eichstätt vorstellten, trugen weiterhin dazu bei, daß sich ein interessanter Dialog zwischen Bibliothekaren und Architekten über Ästhetik und Funktionalität von Bibliotheksbauten entwickelte.

Im Laufe der Tage wurde deutlich, wie stark Design und Einrichtung des Architekten Nutzung und Leistung einer Bibliothek beeinflussen. In Deutschland begegnet man oft dem Festhalten an funktionalen Räumen mit begrenzter Flexibilität, während in Großbritannien seit den späten sechziger Jahren vor allem in Universitätsbibliotheken mit Studienliteratur ein hohes Maß an Flexibilität angestrebt wird. Kommerzielle Elemente - wie beispielsweise ein Zwanzig-Minuten-Stuhl, der bewußt nicht zum Verweilen einlädt - halten Einzug in deutschen Bibliotheken. In der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek in Göttingen wurde deutlich, wie eine gut durchdachte Architektur selbstregulierende Wirkung auf den Bibliotheksbetrieb haben kann. Das Gebäude ist so konstruiert, daß die Leser sich gegenseitig beobachten können und Bibliotheksmitarbeiter dadurch von Aufsichtspflichten entbunden sind. Hierzu gab es eine unmittelbare Demonstration, als ein Leser, der auf einer Ebene über uns arbeitete, den Direktor für zu lautes Sprechen während unseres Rundgangs durch das Gebäude rügte.

Den britischen Bibliothekaren fiel auf, wie beliebt die Verwendung von Wendeltreppen bei Bibliotheksarchitekten in beiden Ländern ist. Eine eher typisch deutsche Eigenheit ist hingegen die häufige Verwendung von oftmals unterirdischen, den Benutzern nicht zugänglichen Magazinen. Sie erinnern eher an Fabriklagerhallen als an die offenen Regale britischer Bibliotheken. Die neuen deutschen Bibliotheken sind daher offen und geräumig und bieten ihren Lesern wie Mitarbeitern eine freundliche und angenehme Arbeitsatmosphäre. Die Arbeitsbereiche der Bibliotheksmitarbeiter sind für britische Verhältnisse großzügig und qualitativ von hohem Standard mit stilvoller und eleganter Beleuchtung, ansprechenden Möbeln und Teppichen.

Aber nicht nur Fragen der Ästhetik und Funktionalität von Bibliotheksneubauten deckte das Programm der Studienreise, sondern es berührte auch zahlreiche für Fachkreise aktuelle interessante Themen: Online-Dokumentenlieferdienste; Urheberrechtsfragen; Lizenzabkommen mit Zeitschriftenverlegern in Deutschland im Vergleich zu den Abkommen in Großbritannien; die Höhe von Ausleihgebühren, insbesondere die unterschiedlichen Ausleihgebühren für kommerzielle und individuelle Forscher; Verzögerungen, die britische Benutzer erlebten, die über den BLDSC-Service der British Library in Boston Spa deutsche Quellen bestellten; die Möglichkeit für britische Universitätsbibliotheken, Benutzerkonten bei Pilotprojekten wie beispielsweise SUBITO einzurichten.

Die Rolle der DFG, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, entspricht der der JISC NFF-Stiftung in Großbritannien. Sie fördert Bibliotheksforschungsprojekte von nationaler Bedeutung. Mit ihrer finanziellen Unterstützung laufen großangelegte Konservierungsprojekte, umfassende Projekte zur retrospektiven Katalogisierung und Projekte zur elektronischen Erfassung von Dokumenten einschließlich umfangreicher Digitalisierungsprojekte. Einige dieser Projekte wurden im Rahmen von Vorführungen und Referaten von deutschen Fachleuten vorgestellt.

Die Literaturversorung deutscher wissenschafticher Bibliotheken unterscheidet sich in einem Punkt wesentlich von den Serviceleistungen britischer Bibliotheken. Deutsche Leser müssen lange Wartezeiten bei Magazinbestellungen in Kauf nehmen. Die Bearbeitung von Bestellungen, die über OPAC aufgegeben werden, kann bis zu zwei Tage dauern, so daß die Leser ihre Forschungsarbeit sorgfältig planen müssen. In den offen zugänglichen Bereichen kann man die Bücher kaum ansehen und durchblättern. Um die Effizienz des Buchtransports zu steigern, wurden in verschiedenen Bibliotheken avancierte Fördersysteme eingeführt. Denn die Wege zwischen den großen nicht zugänglichen Magazinen und den zentralen Ausgabestellen sind erheblich. In der neuen Deutschen Bibliothek benutzt man ansprechende rote Fahrräder, an denen Bücherkörbe befestigt sind, um die Bücher aus den Magazinen zu befördern, und in Göttingen und Frankfurt gibt es zudem große elektrische Buggys, ähnlich wie sie beim Golf benutzt werden. In großen französischen Supermärkten tragen einige Mitarbeiter heutzutage Inline-Skates, warum soll man also nicht Fahrräder und Buggys in großen Bibliotheksmagazinen benutzen?

Dem Londoner Goethe-Institut und vor allem der Leiterin seiner Bibliothek, Frau Marilen Daum, gilt unserer besonderer Dank für ihren Einsatz bei der Planung, Vorbereitung und erfolgreichen Durchführung der Reise. Alle Teilnehmer profitierten sehr davon, daß sie in ihr vor, während und nach der Reise eine Ansprechpartnerin hatten. Auch allen Gastgebern sei gedankt für die sorgfältige Planung und ausgezeichnete Organisation sowie die große Aufmerksamkeit und Gastfreundschaft, mit der uns begegnet wurde. Die deutschen Kollegen trafen sich abends und selbst am Wochenende mit uns, empfingen uns aufs Herzlichste und machten uns in ihren Rathäusern, Restaurants und Gasthäusern mit ihrer Küche und ihren landesüblichen Bieren und Weinen bekannt.

Die Studienreise hat einen wesentlichen Beitrag zum gegenseitigen Verständ-nis geleistet und gezeigt, wie unterschiedlich oftmals die Ausgangsbedingungen der wissenschaftlichen Bibliotheken in Großbritannien und Deutschland sind. Die Teilnehmer erhielten einen Einblick in die Komplexität der deutschen Bibliotheksstrukturen und spürten die konkurrierenden Interessen der verschiedenen Regionen, die teilweise sicherlich in der föderativen Struktur mit komplizierten Bund- und Länderfinanzierungen begründet liegen. Es sind zahlreiche und wertvolle Kontakte während des Aufenthalts in Deutschland entstanden, die dazu beitragen werden, nicht nur die Diskussion über Bibliotheksbau und -design weiterzuführen, sondern den fachlichen Austausch zwischen deutschen und britischen Bibliothekaren insgesamt zu intensivieren.

Übersetzung: Suzette Bell in Zusammenarbeit mit Veronika Dünninger


Stand: 07.10.98
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