BIBLIOTHEKSDIENST Heft 2, 97
Zum Verhältnis von Präsenznutzung und Ausleihe
Eine Stichprobe der ULB Münster
Peter te Boekhorst
Traditionell ist die Ausleihtätigkeit eines der Hauptkriterien für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Bibliotheken. Nur allzu gerne ziehen Unterhaltsträger die Zahl der jährlichen Ausleihen heran, um aus ihr in Verbindung mit anderen statistischen Größen wie der Zahl der eingeschriebenen Studenten fragwürdige Leistungsmaßstäbe zu kreieren. Vor allem für Bibliotheken mit großen Freihandbeständen erweist sich dies als nachteilig. Gegenargumente sind schwerlich zu finden, da sich die Präsenznutzung anerkanntermaßen nur in einem ebenso schwierigen wie zeitaufwendigen Verfahren quantifizieren läßt.
Das Erscheinen des IFLA-Handbuchs zur Leistungsmessung in wissenschaftlichen Bibliotheken (Poll, Roswitha und te Boekhorst, Peter : Measuring Quality: International Guidelines for Performance Measurement in Academic Libraries. - München : Saur, 1996) haben wir in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster zum Anlaß genommen, anhand einer der in den Guidelines beschriebenen Methoden den Umfang der Präsenznutzung näher zu bestimmen. Mitte Juli und Anfang Dezember haben wir die Benutzer im Verlauf jeweils einer Woche auf Plakaten und Aushängen gebeten,
- in den Lesesälen aus dem Regal entnommene Bände nicht zurückzustellen, sondern auf dafür vorgesehene Tische abzulegen. Die Bände wurden nach Fachgruppen gezählt und im Stundenrhythmus zurückgestellt;
- in der Zeitschriftenauslage angelesene Hefte nicht in die Schubfächer, sondern auf bereitgestellte Tische abzulegen. Die Nutzungen jeder Zeitschrift wurden erfaßt, die Hefte gezählt und stündlich zurückgeräumt;
- in den Freihandmagazinen angelesene Bücher und Zeitschriftenbände auf spezielle Buchablagen zu legen sowie Bände, aus denen kopiert wurde, auf bereitgestellte Tische an den Kopierern zu deponieren. Die abgelegten Bücher wurden gezählt und in regelmäßigen Abständen zurückgestellt.
Zweifellos bedarf das Ergebnis genauerer Recherchen, um Einflußfaktoren besser gewichten zu können:
- Je nach Bestandsschwerpunkten kann es ratsam sein, die im Erhebungszeitraum gemachten Kopien zu ermitteln und - nach internationalen Gepflogenheiten - durch 10 zu teilen, um so die Zahl der Nutzungen zu erhalten.
- Diese gebräuchliche Praxis, jeweils 10 Kopien als Benutzungsfall zu rechnen, läßt sich beim Vergleich mit der Zahl der am Kopierer abgelegten Bücher nicht aufrechterhalten.
- Nach unseren Ermittlungen wäre bei einer Bibliothek mit Schwerpunkten in geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern eine höhere Durchschnittszahl (z.B. 15 Kopien pro Benutzungsfall) angebracht.
- Beobachtungen zufolge sind bei weitem nicht alle Benutzer der Aufforderung nachgekommen, die gebrauchten Dokumente nicht an ihren Platz zurückzustellen, so daß der ermittelte Prozentsatz der Präsenznutzungen eher zu niedrig als zu hoch anzusehen ist.
Dennoch sind die Ergebnisse bemerkenswert: Bei den Zeitschriftenheften wurden im Juli 586 und im Dezember 685 Präsenznutzungsfälle registriert, beim Lesesaalbestand 3.217 bzw. 3.056. In den Freihandbereichen waren es 2.231 bzw. 2.280 Präsenznutzungen. Insgesamt belief sich im Juli die Zahl der Präsenznutzungen - einschließlich der in der Lehrbuchsammlung registrierten Kopierbenutzungen - auf 6.076 Fälle. Im Dezember waren es 6.975 Benutzungsfälle, wobei Katalogsaal und Handschriftenabteilung ebenfalls erfaßt wurden.
Setzt man diese Gesamtzahlen in Relation zu den 10.470 bzw. 10.806 Ausleihen ohne Leihfristverlängerungen in Ortsleihe und Lehrbuchsammlung im jeweiligen Erhebungszeitraum, entspricht 1 Ausleihe 0,58 bzw. 0,65 Präsenznutzungen. Somit beläuft sich im Erhebungszeitraum Juli die Zahl der Nutzungsfälle insgesamt auf 16.546, von denen 63% Ausleihen und 37% Präsenznutzungen sind. Im Dezember wurden insgesamt 17.781 Benutzungsfälle registriert, wobei 61% auf Ausleihen und 39% auf Präsenznutzungen entfallen.
Im Durchschnitt kann der eigentliche Nutzungsgrad der Bestände um 62% höher als die Ausleihtätigkeit angesetzt werden. In Anbetracht dieser nachgewiesenen Größenverhältnisse präsentieren sich die Ausleihzahlen von Bibliotheken in völlig neuem Licht. Erweitert um den Faktor für die Präsenznutzung vermitteln sie nunmehr ein eindrucksvolles Bild von der tatsächlichen Leistungsfähigkeit der Bibliotheken.