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Bibliotheksdienst Heft 11, 96

New York Public Library wurde 100

Gernot U. Gabel

Mitten in Manhattan, umgeben von Wolkenkratzern, liegt die Zentrale der New York Public Library (NYPL), die in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag feiert. Wie so oft in Amerika, ist ihre Gründung der privaten Initiative von Sponsoren zu verdanken.

In einer Phase der kulturellen Selbstbestimmung Amerikas am Ende des 19. Jahrhunderts, als sich in New York Macht und Reichtum des neuen Kontinents sichtbar manifestierten, wurde in der Bevölkerung der Ruf nach einer öffentlichen Bibliothek für alle Bürger der Stadt laut. Bis 1895 gab es keine dieser Einrichtungen, nur zwei von Privatleuten unterhaltene Bibliotheken. Die Astor Library, 1848 von dem durch Pelz- und Teehandel zu Reichtum gelangten deutschen Einwanderer gegründet, und die 1870 vom einem Bibliophilen eingerichtete Lenox Library. Beide waren Gelehrtenbibliotheken und galten als elitär, und zudem vermochten sie dem wachsenden Lese- und Informationsbedürfnis der Bürger nicht gerecht zu werden. Daneben gab es eine größere Zahl von privaten Leihbüchereien, die zum Teil öffentliche Zuschüsse erhielten.

Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts war eine neue Generation von wohlhabenden New Yorkern bemüht, in ihrer Stadt, der größten in den USA, die typischen Institutionen bürgerlicher Kultur zu etablieren. Das Metropolitan Museum of Art und das American Museum of Natural History waren bereits von kunstsinnigen Bürgern gestiftet worden, und Anfang der neunziger Jahre kamen ein Botanischer Garten und der Zoo hinzu. Für die Bibliothekssituation zeichnete sich bereits 1887 eine Veränderung ab, als die Tilden Stiftung (des ehemaligen Gouverneurs des Staates New York) Gelder für eine öffentliche Bibliothek bereitstellte. Nach längeren Diskussionen entschloß man sich, diese Mittel mit denen der Astor- und Lenox-Stiftungen zu kombinieren, um daraus eine gemeinnützige Stiftung mit dem Namen "New York Public Library, Astor, Lenox and Tilden Foundations" einzurichten. Am 23. Mai 1895 wurde die Urkunde unterzeichnet. Da diese Einrichtung jedoch nur ein relativ bescheidenes Stiftungsvermögen besaß und ihr auch ein gemeinsam zu nutzendes Gebäude fehlte, suchte man die Unterstützung der öffentlichen Hand. Am 25. März 1896 bewilligte der Stadtrat Gelder für den Bau der Bibliothek und stellte zugleich ein Gelände an der Fifth Avenue in Höhe der 42. Straße als Baugrundstück zur Verfügung.

1897 begannen die Arbeiten am Bibliotheksgebäude, das die Architekten Thomas Hastings und John Merven Carrière mit Unterstützung von Zeichnern der Pariser Ecole des Beaux Arts entworfen hatten. 1901 erklärte sich Andrew Carnegie bereit, Gelder für die Einrichtung von Zweigbibliotheken zu stiften, wenn die Stadt dafür Baugrundstücke zur Verfügung stellen würde. Der Stadtrat stimmte dem freudig zu, und seitdem unterhält die Stadtverwaltung ein breitgefächertes Netz von Zweigstellen in allen Stadtteilen. 1911 konnte der Prachtbau an der Fifth Avenue, ausgestattet mit 18 Sonderlesesälen und 1,2 Millionen Bänden, von US-Präsident Howard Taft feierlich eröffnet werden.

Aus der Partnerschaft von Stadtverwaltung, privaten Sponsoren und staatlichen Geldern entstand eine enge Kooperation, die das größte öffentliche Bibliothekssystem der Vereinigten Staaten unterhält. Entscheidendes Verwaltungsgremium ist das Kuratorium, besetzt mit Persönlichkeiten der Wirtschaft, Kultur und Verwaltung, die ihre Kompetenzen und ihre Beziehungen zum Wohle der Bibliothek einsetzen. Das von ihnen angestrebte Ideal war die universelle Forschungsbibliothek in dem von Göttingen für das 19. Jahrhundert propagierten Modell, und als Vorbild wurden die großen europäischen Nationalbibliotheken in London und Paris genannt. Die neue Bibliothek war ihnen ein Symbol für den Optimismus des modernen Lebens, für den Glauben, daß Wissen den Schlüssel zum Fortschritt darstellt. Und da dem Gremium nicht nur Unternehmer und Anwälte, sondern auch Gelehrte und Künstler angehörten, war ihnen die internationale Ausrichtung der Sammeltätigkeit von Anfang an ein Anliegen.

Das Herzstück des Bibliotheksnetzes ist die Research Library der NYPL, die rund 39 Millionen Dokumente verwahrt (darunter 12 Millionen Bücher) und als zweite Nationalbibliothek der USA gilt. Ihre Sammlungen in 3000 Sprachen und Dialekten repräsentieren die Geschichte von fünf Jahrtausenden des geschriebenen Wortes. Neben der jüngst in Humanities Library umbenannten Zentrale gibt es 82 Filialen (Branches genannt), die für Bürger von Soho bis Harlem und von Bronx bis Queens vor Ort unentgeltlich offenstehen. Die Betriebskosten des Netzes sind allerdings immens. Jährlich müssen 127 Millionen Dollar (1993) aufgewendet werden, eine Summe, die die von Finanznöten geplagte Verwaltung nicht allein aufzubringen vermag. Nun ist es in Amerika gute Tradition, sich privat für öffentliche Bereiche zu engagieren, und so hat sich auch die NYPL ein breites Netzwerk von Sponsoren geschaffen, das durch Spenden und Stiftungen zur Finanzierung der Sammlungen wie des Personals beiträgt. Als die NYPL in den späten 70er Jahren in eine Finanzkrise geriet und Kürzungen ihrer Dienstleistungen angekündigt wurden, rief man Leser und Mäzene zu einer "Fund Raising"-Aktion auf, die bis 1984 rund 13 Millionen Dollar einbrachte. Allein die Astor Foundation stiftete der Bibliothek zum 75. Jubiläum ihrer Eröffnung 10 Millionen Dollar. Überhaupt rechnet man es sich in den besseren Kreisen der Stadt zur Ehre an, dem Verwaltungsrat der NYPL anzugehören. Auf der Spenderliste finden sich wie selbstverständlich Weltfirmen wie IBM, Exxon, die Chase Manhattan Bank, Bloomingdale's, MTV und die "New York Times", und auch die Liste privater Spender liest sich wie ein Who's Who der Reichen und Mächtigen. Die Direktion weist natürlich gern auf die breite Unterstützung durch die Bevölkerung hin, wenn es gilt, den Stadtvätern Gelder für die NYPL abzutrotzen. Zu ihrem positiven Image trägt nicht unerheblich der Live-Auftritt von Künstlern bei, die mit ihren Lesungen, Theater- und Musikdarbietungen das Programm der Bibliothek bereichern. Selbst die Prominenz aus Film und Showgeschäft erscheint gern als Gast oder Sponsor im Buchpalast an der 42. Straße.

Im hektischen Getriebe der Metropole am Hudson ist die Bibliothek ein Ort der Ruhe und der Sammlung, aber beileibe kein Elfenbeinturm. Wenn man die breiten Stufen emporgeht, bewacht von den steinernen Löwen Patience und Fortitude, wird man zunächst von einer Atmosphäre aus dem 19. Jahrhundert gefangen. Marmor aus Frankreich, Hölzer aus Afrika und Stuck bilden die Grundelemente des Gebäudes, beleuchtet vom Schein der Jugendstillampen. In den Lesesälen mit Holztäfelung laden Ledersessel zum Verweilen ein. Und der Literaturbestand wie der Service sind bewundernswert. Meist schon nach einer Viertelstunde liegt das Buch vor dem Besteller, geholt aus den weitverzweigten Magazinenschluchten. Der Anschaffungsetat ist so hinreichend bemessen, daß die aktuelle Literatur in großer Breite gekauft werden kann. Nicht unerheblich sind auch die Schenkungen, die ihr von vielen Seiten zufließen, darunter wertvollste Spezialsammlungen. Bereits 1972 hielt der Computer Einzug in die ehrwürdigen Hallen, und seitdem sind alle 50 Millionen bibliographischen Einheiten, die das System bereithält, maschinenlesbar in den Katalogen erfaßt.

Als im Laufe der Jahrzehnte die Sammlungen der NYPL an Umfang und Spezialisierung zunahmen, wurde es nötig, Schwerpunktbibliotheken einzurichten. Im Lincoln Center, in der Nachbarschaft von Oper und Konzertsaal, entstand eine Theaterbibliothek, und im Stadtteil Harlem öffnete eine Sammlung zur Geschichte und Kultur der schwarzen Amerikaner ihre Tore. Im Frühjahr 1996 konnte NYPL-Präsident Paul LeClerc die neue Science, Industry and Business Library (SIBL) einweihen, die auf zwei Etagen eines ehemaligen Kaufhauses an der Madison Avenue ihr neues Domizil fand. Das Gebäude war in den Jahren 1906 - 1913 im Stil eines italienischen Palazzos errichtet worden. Im Äußeren setzt man also auf Tradition, aber im Inneren regiert HighTech. Dank ihrer extensiven EDV-Ausstattung (250 Computer, 500 Terminals) haben Kommentatoren die SIBL, die einen Buchbestand von 1,2 Millionen Bänden umfaßt, als Prototyp einer Forschungsbibliothek des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Um die Kosten von 100 Millionen Dollar aufzubringen, wählte man übrigens ein für Amerika typisches Finanzierungsmodell. Fünfzig Millionen Dollar sollen von privaten Spendern aufgebracht werden (bisher 35), 25 Millionen Dollar ließen sich als Pfandbriefe mit langer Laufzeit absetzen, und nur die restlichen 25 Millionen Dollar stammen aus öffentlichen Kassen.

In Anbetracht der Tatsache, daß die Bibliothek eine breitgefächerte Benutzerschaft aufweist, hatte man sich für das Jubiläumsjahr eine Vielzahl von Veranstaltungen einfallen lassen. In drei Ausstellungen, davon die größte in drei Etappen und zudem als Wanderausstellung konzipiert, konnten Interessenten herausragende Zeugnisse ihrer bisherigen Sammeltätigkeit betrachten. An einem Tag der offenen Tür wurde ein buntes Festprogramm geboten, das mehr auf Schau und Entertainment als auf beschauliche Betrachtung setzte. Für eine betuchte Klientel hatte man zudem am Nikolaustag Einladungen zu 100 Abendparties angeboten (Titel: Tables of Content), die sowohl in renommierten Institutionen stattfanden wie in den Wohnungen von Privatpersonen ausgerichtet wurden. Die Gäste zahlten einheitlich 350 Dollar, die natürlich der Bibliothek zugute kamen. Auf jeder Festversammlung wurde eine von Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison konzipierte Festrede auf die Bibliothek verlesen - die Schriftstellerin gehört übrigens dem Kuratorium der NYPL an - und die Gäste konnten ausgiebig mit der Prominenz aus der Literatur- und Theaterszene plaudern.

Im bibliothekarischen Alltag bleiben hingegen Besuchern auch die sozialen Probleme der Stadt nicht verborgen. Der die Bibliothek umgebende Bryant Park ist seit jeher ein Sammelplatz für die Armen und Einsamen von Manhattan, die auch gern in den wohltemperierten Hallen Zuflucht vor der winterlichen Kälte suchen. Die Benutzungsordnung weist zwar darauf hin, daß man sich "anständig" zu kleiden und das Schlafen auf den Sitzen zu unterlassen habe, aber keiner wird einem ärmlich aussehenden Besucher die Tür weisen, denn die von einigen als "Kathedrale des Wortes" gepriesene, von anderen schlicht "people's library" genannte Institution ist für Millionäre wie Bettler ohne Eintritt geöffnet. Die NYPL hat schließlich jedem etwas zu bieten.


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